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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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versetzte. Darin klangen in bemerkenswerter Weise heidnische Schönheit und Gotteserkenntnis zusammen. Die Begleitstimme des Themas war derart luftig und leicht, bebte derart geheimnisvoll in ihrem Pianissimo , dass darin das Erschauern einer betenden Seele angesichts des Göttlichen fühlbar wurde. Doch jäh setzten feierliche Akkorde ein, wie eine Antwort des Göttlichen auf das Gebet, und diese Akkorde wurden immer feierlicher und großartiger, mächtiger, bedeutungsvoller, erhoben die Seele höher und höher, und als sie äußerste Anspannung erreichten, brachen sie unvermittelt ab. Die Töne gingen ins Piano über wie in eine ätherische Welt und verloren sich schließlich in einem zarten Pianissimo , gerade so, als ob jemandes Seele in die Ewigkeit getragen worden sei und im Nichts ihre Ruhe gefunden habe.
    Das Stück war schwierig, Sascha probierte es viele Stunden lang, aber das Entzücken, das es ihr verschaffte, wog alle Mühen auf.
    Wäre es nicht schon so kalt geworden und hätte sie nicht befürchtet, Aljoscha könne sich im schlecht zu heizenden Sommerhaus erkälten – Sascha hätte noch lange nicht Abschied von ihrem stillen Leben genommen. Sie dachte nicht an Iwan Iljitsch, nicht daran, was sie im Winter in Moskau erwartete, lebte ganz in der Natur und in der Musik, und ihre Freude daran war rechtschaffen und rein. Sie fühlte sich wieder ganz frei und unbefleckt von allen niederen menschlichen Gefühlen; um nichts in der Welt wollte sie diese Gemütsverfassung zerstören.
    Indes, der Herbst brach früh und mit grimmiger Kälte herein; Aljoscha bekam einen Schnupfen; man konnte nicht mehr spazieren gehen, der Knabe begann sich zu langweilen und wollte nach Moskau, zu seinem Papa.
    Sascha spürte, dass es nun wirklich an der Zeit sei, nach Hause zu fahren, und begann zu packen. Doch noch einmal wollte sie die Orte dieser liebgewonnenen Gegend abschreiten, wo sie einen erfüllten, ja glücklichen Sommer verbracht hatte.
    Als sie ihre Noten und ihre anderen kleinen Schätze, die Porträts und Papiere zusammengetragen hatte, hieß sie Parascha zu packen und machte sich auf zu einem Spaziergang. Der kurze Herbsttag wechselte frühlingshaft launisch mehrmals seine Stimmung. Am Morgen war es feucht, feiner Regen fiel, später schaute die Sonne hervor.
    Sascha trat aus dem Wald heraus und blieb an dem abschüssigen Weg stehen. Zur Rechten lag eine kleine Tannenschonung. Auch ein paar junge Birken hatte man dort gesetzt. Ihre strohgelben, trockenen Blätter stachen vor der Kulisse der dichten, grünen Tannen und des graustahlblauen Himmels besonders hervor. Über den Himmel in seiner ganzen Weite erstreckte sich tollkühn der hohe Bogen eines strahlenden Regenbogens. Zur Linken war in einem gelb-roten Streifen die untergehende Sonne zu sehen, auffallend hell und heiter, als ob sie ihre fröhlich-sommerliche Schönheit gegen die finstere Schwärze des herbstlichen Himmels mit dem Regenbogen behaupten wollte. Und plötzlich warf sie, als ob sie die langsam dahinsterbende Natur besänftigen wollte, freigiebig ihr Licht auf die Wipfel der strohgelben Birken und auf die leuchtenden Tannen, allein der unerschütterlich bleierne Himmel beugte sich nicht ihrer warmen Liebkosung und blieb finster.
    Die Schönheit und Erhabenheit der Natur ließ Sascha erschaudern.«Und dich muss ich verlassen», wandte sie sich innerlich an die Gesamtheit der Schöpfung,«nun werde ich untergehen im Strudel der menschlichen Leidenschaft und Verführung…»
    Sie beschleunigte ihren Schritt, denn die Dunkelheit, die über den Wald hereinbrach, ängstigte sie. Es war still, nur das Rauschen der Blätter, die unaufhörlich von den Bäumen herabfielen, war zu vernehmen, als ob flüsternd sich jemand unterhielt. Die Blätter fielen zuhauf, die Füße versanken im grauen, braunen, trockenen Laub, das unter Saschas Schritten raschelte und durch den Lufthauch ihres Kleides auseinanderstob.
    Da, die alte Eiche mit ihrer knorrigen Wurzel, die in den Weg hineinragte. Fast jeden Tag war sie darübergetreten, wenn sie baden ging, und fast jedes Mal hatte sie hier Iwan Iljitsch getroffen… Wo war er? Plötzlich erinnerte sie sich an ihn, und ein quälendes Verlangen, ihn wiederzusehen und wiederzuhören, stieg so jählings in ihrem Herzen auf, dass sie beinah nach Hause rannte, geradewegs in ihr Zimmer. Wie im Fieber warf sie schnell die letzten Dinge zusammen und ließ einen Wagen und eine Kalesche bestellen, um am frühen Morgen nach Moskau

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