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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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bezaubernden, tiefblauen Vergissmeinnicht. Als Iwan Iljitsch schließlich aus dem Badehaus kam, bat er sie um die Blumen. Er bewunderte sie, wählte einige für sich aus und gab die übrigen Sascha zurück; sie bemerkte die Schönheit seiner Hände, und schwelgerisch versenkte sie ihr Gesicht in den frischen Blüten.
    Als Nächstes die kleinen Gräser… Sascha hatte sie gepflückt, als sie am Waldrand saßen und darüber sprachen, wie gut es sei, so zu leben, wie sie es gerade taten: sorglos, tagein, tagaus in der Natur, frei und müßig unter der brennenden Sonne, welche Körper und Seele erweicht… Während sie sich unterhielten, aß Aljoscha zu viele Himbeeren und beschmierte seine Brust mit rotem Saft; dann legte er abwechselnd der Mutter und Iwan Iljitsch eine Beere in den Mund, und dies vereinte sie beide und entzückte Sascha. Und sie erinnerte sich plötzlich auch daran, wie sie an jenem Tag das zahllose, auf der Erde hin und her wimmelnde kleine Getier beobachtet hatte.
    Sascha schlug die Seite um. Die Stiefmütterchen, große und kleine, ganz wie kleine Fratzen… Ihr Mann hatte sie zahlreich gepflanzt und auch geschnitten, und sie hatte sie im Kreis eingeklebt, als Kranz. All diese großäugigen Blüten blickten sie wie Gesichter geradezu ironisch an, wie bisweilen Iwan Iljitsch sie anzublicken pflegte, und eilig blätterte sie weiter.
    Die Kornblumen… manche kahl und weiß geworden, manche noch strahlend blau. Sascha erinnerte sich an das endlose Roggenfeld, wie es glänzte und wogte. Die Halme bogen sich unter den schweren Ähren, der Roggen war bereits reif, und eine gewisse Anspannung war in dieser vollen Blüte des Sommers zu spüren.
    Es waren Gäste gekommen; beschwingt und heiter ging Sascha mit ihnen den schmalen Feldweg entlang. Hinter sich fühlte sie die Anwesenheit Iwan Iljitschs, der zuvor ihr Sommerkleid gelobt hatte, fühlte, wie er sie beobachtete. Dann blieb er zurück und pflückte die Kornblumen.
    «Schauen Sie, welch eine Augenweide, wie groß und strahlend sie in diesem Jahr sind», sagte er, als er ihr den Strauß überreichte.
    Sascha streckte die Hand aus, nahm die Blumen, und freudig sprang ihr Herz. Am Abend klebte sie sie ein und notierte darunter das Datum.
    Ach, genug… Doch hier, der Farn… Diese Zweige hatte ihr Aljoscha gebracht. Er fand, sie sähen aus wie kleine grüne Federn. Und hier, auf der letzten Seite, die späten, festen, unfruchtbaren Blüten vom Erdbeerbeet, die sie kürzlich erst gepflückt hatte. Rote Blätter, kleine Blüten mit Härchen, die keine Frucht mehr geben werden… Warum nur blühten diese Erdbeeren vor dem Herbst ein zweites Mal auf, nicht zu ihrer Zeit und fruchtlos?
    Warum nur war in ihrem Herzen die fruchtlose und unnütze Liebe zur Musik und zu dem Mann, der sie ihr nahegebracht hatte, entbrannt? Warum schmerzte ihr Herz so sehr, da das gelbe Sommerhaus verlassen und die Musik, die sie beseelt hatte, verstummt war, besonders heute, als die letzten Habseligkeiten Iwan Iljitschs und sein Flügel abgeholt worden waren?
    Ist denn wirklich alles Vergangenheit? Der Sommer, die Blumen, Mendelssohns«Lied ohne Worte», das ihr Herz geheilt hatte, und ihr wahnsinniges, kurzes, sorgloses Glück, das ihr die wunderbaren Klänge der Musik gegeben hatten.erklang in ihrem Innern das Lied in G-Dur; es schlich sich ein Gift in ihr Herz, und Sascha ließ kraftlos ihren Kopf auf das Buch sinken und begann zu weinen.

V
     
    Die letzten Tage im Sommerhaus
     
    Zwei Wochen noch verbrachte Sascha mit ihrem Sohn im Sommerhaus. Pjotr Afanassjewitsch war nur hin und wieder zugegen, in der Versicherungsgesellschaft war er unabkömmlich. Ein Großbrand, der das Kapital der Gesellschaft aufs schwerste belastete, verursachte beträchtliche Aufregung; es wurde wegen Brandstiftung ermittelt. Der sanftmütige Pjotr Afanassjewitsch war außer sich und erhob seine Stimme, wenn er Sascha von den Machenschaften berichtete. Er versah diesen Dienst schon einige Jahre, war ihm von ganzem Herzen ergeben und vollkommen davon in Anspruch genommen. Sascha empfand ihre Einsamkeit nicht als bedrückend. Sie las sehr viel und schrieb aus den Büchern alle Gedanken heraus, die ihr besonders gefielen. Überdies beschäftigte sie sich weiterhin eingehend mit der Musik. Wie sehr genoss sie es, viele Stunden am Flügel zu verbringen! Sie studierte einige Stücke ein, darunter auch ein Werk, das Iwan Iljitsch vor nicht allzu langer Zeit geschrieben hatte und das sie in Verzückung

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