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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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imstande sei.
    Dies war ein Unglück, ein wirkliches Unglück, nicht allein für ihn, sondern für sie beide. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, erhob er sich, trat zu seiner Frau und nahm ruhig ihre Hand.
    «Sascha, erkläre mir nichts. Ich habe alles verstanden. Uns wurde eine Prüfung geschickt, und wir müssen unser Bestes tun, sie zu bestehen…»
    Sascha schaute mit tränenleerem, gefrorenem Blick zu Boden und schwieg.
    «Meine liebe, redliche, aufrichtige, lautere Sascha! Du Arme, du Arme!»Wieder wurde er von Tränen erstickt und verstummte.«Sascha, du bist eine so brave Frau», fuhr er schließlich beherzt fort,«du bist tapfer und seelenstark. Meine Freundin, Liebe, gemeinsam werden wir diese schwierige Lage meistern, nur verlasse mich nicht, entziehe mir nicht dein Vertrauen und deine Freundschaft.»
    Sascha drückte dem Gatten fest die Hand, blickte in sein verzweifeltes Gesicht und sagte leise:«Ja, das verspreche ich dir; ich verlasse dich nicht, werde nichts Unrechtes tun… er liebt mich ja nicht einmal», fügte sie bitter hinzu, womit sie ihrem Mann einen noch größeren Stich versetzte.«Doch wenn meine Seele, all meines Bemühens ungeachtet, zerbricht und ich schuldig werde, dann verzeihe mir… Du hast recht, es ist ein Unglück…»
    Pjotr Afanassjewitsch küsste seine Frau auf die Stirn und zog sich in sein Zimmer zurück.
    Von diesem Tag an gab er besonders acht auf den Zustand seiner Frau. Kein Wort fiel mehr über ihre Gefühle für Iwan Iljitsch, doch es war eine Anspannung, etwas Unausgesprochenes zwischen den Ehegatten, ja auf dem ganzen Haus lastete eine schwere Gemütsstimmung. Sein Verhalten gegen Iwan Iljitsch veränderte Pjotr Afanassjewitsch nicht, doch litt er ganz offensichtlich unter dessen Anwesenheit.

XI
     
    Das Frauenkloster
     
    «Gnädige Frau», begann am nächsten Morgen die Njanja,«im hiesigen Frauenkloster findet heute eine Armenspeisung statt, zum Gedenken an den Zaren werden sechshundert Menschen verköstigt, da sollten Sie hingehen und sich das anschauen, und auch uns könnten Sie freigeben dafür.»
    «Ja, ich habe davon gehört, man sollte tatsächlich hingehen», antwortete Sascha, die zu allem bereit war, nur um nicht zu Hause bleiben zu müssen, wo sie von ihren Gedanken geplagt wurde und fortwährend ihrem Mann über den Weg lief.
    Seit ihrer Kindheit war Sascha Klöstern zugetan. In ihrer Jugend, bevor sie sich auf die Aufnahmeprüfung zum Konservatorium vorbereitete, hatte sie gar Nonne werden wollen. Ihr gefiel die Poesie des klösterlichen Lebens, die Vorstellung des Dienstes an Gott und die völlige Konzentration auf das Göttliche, die Lossagung vom Sinnlichen, die geistige Selbstvervollkommnung. In ihrer augenblicklichen Stimmung war es ihr ein besonderes Bedürfnis, ein Kloster aufzusuchen.
    Nachdem Pjotr Afanassjewitsch zum Dienst in der Versicherungsgesellschaft aufgebrochen war, kleidete sie sich an und machte sich auf zum Frauenkloster, welches am Stadtrand Moskaus lag. Sie nahm die Pferdebahn, die voller Menschen war, und als sie an der Endstation ausstieg, ließ der Anblick der Felder und des Waldes hinter dem Fluss Sascha zu sich kommen; die Weite des Raums ohne Häuser, Zäune, Straßen, ohne die Menschenmassen der Stadt erfrischte ihren Geist und spendete ihr Ruhe.
    Nachdem sie einige Zeit an der Klostermauer gestanden hatte, trat Sascha durch das Tor und erblickte eine riesige Menge von Frauen unterschiedlichsten Alters, unterschiedlichster Herkunft und Kleidung: Frauen mit Säuglingen und mit Heranwachsenden, Greisinnen, arme, fröhliche und freudlose, forsche und kranke Frauen in abgetragener Kleidung, sogar festlich gewandete junge Bauersfrauen in roten Tüchern – so viele Frauen…
    Der Torwächter des Klosters überschlug die Zahl der Besucherinnen und ließ jeweils um die zweihundert Personen ein, zunächst hinter die Klostermauern, dann in die niedrige, aus Stein erbaute Kirche, in der alles für das Essen vorbereitet wurde; die übrigen mussten warten, bis die Reihe an ihnen war.
    In der alten Kirche standen mit weißen Tüchern bedeckte lange, schmale Tische, an deren Seiten ebensolche langen und schmalen Bänke standen. Auf einen großen Tisch an der Seite wurden ganze Berge von Kuchen und Broten, Kessel mit Kohlsuppe und Schüsseln mit Kisel gestellt.
    Junge Novizinnen, liebreizend und blasswangig, flogen schwebenden Schrittes dahin und verteilten große Körbe mit in Scheiben geschnittenem Roggenbrot und mit Kohl

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