Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
sein wie die Natur… Wenn man sich in einen Maler oder Musiker verliebt, so schließt dies an sich schon die Liebe zur Kunst aus.»
Wie auch Anna in Eine Frage der Schuld ist Sascha im Lied ohne Worte als ideale Frau gezeichnet. Beide sind sorgende Mütter und rechtschaffene Ehefrauen, gleichwohl vermag dieses Leben Tolstajas Protagonistinnen nicht zufriedenzustellen. Anna begeistert sich für die Malerei, Sascha ist überaus musikalisch. Die Ehe, die sie früh eingingen, brachte beiden Enttäuschung: Die romantische Anna erkennt nach einigen Jahren Ehe, dass ihr Mann, Fürst Prosorski, mit seinem Desinteresse für ihre Persönlichkeit«die beste Seite ihres Ichs umgebracht hatte», Sascha wird nach Monaten bitterer Niedergeschlagenheit bewusst, dass ihre Seelennot nicht allein von dem Verlust der Mutter herrührt, sondern daher, dass es in ihrer Ehe mit Pjotr Afanassjewitsch an geistiger Nähe fehlt.
Im Gegensatz zum jähzornigen und krankhaft eifersüchtigen Fürsten Prosorski ist Pjotr Afanassjewitsch, der ausdruckslose Beamte einer Versicherungsgesellschaft, dessen größte Leidenschaft sein Garten ist, als gütiger und zartfühlender Gatte dargestellt, der sogar bereit ist, Saschas Schwärmerei für einen anderen zu verzeihen. Ein wenig plump und prosaisch, ist er jedoch unfähig, die Bedürfnisse seiner jungen, musikalisch begabten Ehefrau zu erfassen.
Mit Bechmetew in Eine Frage der Schuld und Iwan Iljitsch in Lied ohne Worte lässt Tolstaja jeweils einen Mann ins Leben ihrer Protagonistinnen treten, der ihren Idealen entspricht, einen Menschen, der ihre Interessen teilt und ihnen eine Sphäre der Kunst jenseits des Alltags offenbart. Bechmetew sieht Anna als Persönlichkeit und nimmt ihre Begeisterung für die Malerei ernst, während Iwan Iljitsch Sascha die Welt der Musik eröffnet. Durch den geistigen Austausch mit einem anderen Mann, den Tolstaja jeweils als Gegenentwurf zum Ehemann zeichnet, erkennen die beiden jungen Frauen ihre mangelnde ästhetische und emotionale Erfüllung. Dennoch sind die Objekte der Begierde in den beiden Romanen sehr unterschiedlich: Während Annas Verehrer Bechmetew als überaus liebenswürdiger, sensibler und rücksichtsvoller Mensch dargestellt wird, ist Iwan Iljitsch mit seinem Egoismus und seinem mangelnden Feingefühl keine eindeutig positive Figur.
In der geistigen Verbindung mit dem Musiker findet Sascha dennoch jene Erfüllung, die sie in ihrer Ehe schmerzlich vermisst. Als sie«in der weichen Stille der Mainacht»das Lied ohne Worte hört, das, vom noch unbekannten Nachbarn gespielt, aus dem gelben Sommerhaus zu ihr herüberklingt, fühlt Sascha sich zum ersten Mal nach dem Tod der Mutter«mit dem Leben versöhnt». Wie ein Gift dringt die Melodie in Saschas Herz, und die Musik erweckt in ihr«eine Sehnsucht nach Liebe». Sascha verliebt sich in den«Hohepriester der Kunst», und obwohl sie ihr Gefühl als«töricht, schlecht und frevelhaft»empfindet, gibt sie sich ihrer Schwärmerei für einen Moment hemmungslos hin.
Anna in Eine Frage der Schuld bleibt bis zum Schluss ein idealisierter Charakter. Wenngleich ihre Freundschaft zu Bechmetew die Verbindung zweier verwandter Seelen ist, ist sie bereit, dem eigenen Glück ihrer Kinder wegen zu entsagen. Saschas Persönlichkeit hingegen ist wie der der Ehebrecherin Anna Karenina etwas«Gefährliches»eigen, das in ihrer Leidenschaft für den Musiker zutage tritt.«Sie sind wie ein Bild von Rembrandt», charakterisiert Iwan Iljitsch sie:«Viel Schatten, aber auch viel Licht.»Diese«Schatten»repräsentieren die bedrohliche, dunkle Seite des Weiblichen, das bei den Männern Tolstois vielfach proklamierter Auffassung zufolge niedrige Instinkte weckt. Tolstaja kommentiert hier abermals die Überzeugung ihres Gatten, dass die Frau mit ihrer Sinnlichkeit den wehrlosen Mann ins Verderben führe. Die Verkörperung des männlichen Prinzips in Tolstajas Roman indes, nämlich Iwan Iljitsch, ist mit den Eigenschaften Rationalität, Vernunft und Hingabe an das Erhabene, seine Kunst, ausgestattet. Ihm flößt Saschas Irrationalität Angst ein. Die Persönlichkeit der verliebten Frau fasziniert ihn, seine aufkeimenden Gefühle für sie lässt er jedoch nicht zu.
Saschas Handlungen sind von Empfindungen und Affekten geleitet. Als sie begreift, dass Iwan Iljitsch, dieser«geniale Musiker, der ihr fremd war und sie befremdete… Mittelpunkt ihres Lebens geworden»ist, sieht sie sich ihren Gefühlen zu ihm ausgeliefert. Die Liebe zur
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