Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Musik, die Sascha mit fast religiöser Demut verehrt, ist durch ihre Leidenschaft für den Menschen befleckt worden. Obwohl Sascha scheint, dass Iwan Iljitsch ihre Zuneigung erwidert, und obwohl ihr das Leben ohne ihn unerträglich und sinnlos vorkommt, weicht sie ihm aus. Sie verbietet sich, den Angebeteten durch ihre niedere menschliche Leidenschaft von seinem Weg des Dienstes an der Kunst abzubringen, und opfert ihre Liebe und sich selbst. Iwan Iljitsch soll der«makellose Hohepriester seiner Kunst»bleiben.
     
    «Warum nur errichten Menschen eine Mauer um sich herum, wie L.[ew] N.[ikolajewitsch] [Tolstoi] und Sergej Iwanowitsch [Tanejew] es tun? Erfordern denn ihre Werke – ihr geistiges, künstlerisches und musikalisches Schaffen – eine solche Abgrenzung von den Mitmenschen und ihrem Mitempfinden? Und wir, die gewöhnlichen Sterblichen, laufen in unserer Einsamkeit, in unserer Liebe zu jenen, die diese Grenze zwischen sich selbst und uns ziehen, voller Schmerz gegen diese Mauern an.»Diese bitteren Worte, die Tolstaja im August 1902 in ihrem Tagebuch festhält, könnten als Epigraph zu ihrem Roman dienen.
    Wie ihre Protagonistinnen vermochte auch Sofja Tolstaja es nicht, die«Schlüssel zum Glück»zu ergreifen. Zu sehr engten sie die Normen ihrer Zeit ein, als dass sie ihre eigene Persönlichkeit in ihrem Leben und in ihrer Literatur ganz zu verwirklichen gewagt hätte. Zu sehr engte sie auch der übergroße Einfluss ihres Mannes ein, von dem zu befreien ihr nie ganz gelingen sollte. Dennoch wich Tolstaja, im Unterschied zu ihren weiblichen Hauptfiguren, vom Weg ihrer Emanzipation nicht mehr ab. Sie beschäftigte sich mit Photographie und Malerei und setzte auch ihre literarische Tätigkeit fort. Nach Abschluss der Arbeit am Lied ohne Worte begann sie ihr Hauptwerk, ihre umfangreiche Autobiographie Mein Leben , die bisher in Russland nur in Auszügen erscheinen konnte. In jenen Jahren, als gegenseitige Entfremdung die Ehe der Tolstois zunehmend überschattete, wurde ihr die künstlerische Arbeit zur Zuflucht vor den Widrigkeiten des Alltags und verlieh ihrem Leben Sinn.
    «Glücklich sind jene Ehefrauen, die bis zum Ende freundschaftlich und voller gegenseitiger Anteilnahme mit ihren Gatten leben! Unglücklich, einsam hingegen sind die Ehefrauen von Egoisten, von bedeutenden Menschen, aus denen die nachfolgenden Generationen Xanthippen machen!», notierte Tolstaja im November 1903 vorausahnend.
    Aus den meisten Biographien Lew Tolstois kennt man sie als Inbegriff der«schlechten Schriftstellergattin», die unfähig war, die geistige Größe ihres Mannes zu begreifen. Viele Jahrzehnte blieb unbemerkt, dass auch Tolstaja ein eigenes schriftstellerisches Werk hinterlassen hat. Obwohl sie ihr Lied ohne Worte immer wieder zur Hand nahm und überarbeitete, ließ sie auch dieses Werk unveröffentlicht. Möglicherweise fürchtete sie den Skandal. Fast ein Jahrhundert nach Sofja Tolstajas Tod wird das Lied ohne Worte nun in deutscher Übersetzung erstmals gedruckt. Wie Eine Frage der Schuld ist auch dieses Werk voller Analogien zu ihrem eigenen Leben. Doch ist ihr Roman nicht nur autobiographisches Dokument, das von der Hinneigung der Gattin Tolstois zur Musik und zu dem Komponisten Tanejew erzählt, sondern zeigt deutlich die literarische Begabung Tolstajas. In den psychologisch genau beobachteten Charakteren, den anschaulichen Schilderungen der Alltagsszenen und vor allem in den höchst poetischen Beschreibungen der Natur, in der sich Seelenzustände spiegeln, entwickelt Tolstaja auch in diesem Roman künstlerisch überzeugend ihre Idee von der Unüberwindbarkeit der Geschlechtergegensätze, die die gegen ihre traditionelle Rolle rebellierende Frau zugrunde gehen lässt. Sie selbst allerdings behauptete sich in ihrem Leben auch durch ihr literarisches Werk, das nunmehr zu späten Ehren gelangt, als selbstbewusste Persönlichkeit.
     
    Natalja Sharandak

EDITORISCHE NOTIZ
     
    Sofja Andrejewna Tolstajas Lied ohne Worte gelangt mit der vorliegenden Ausgabe zum ersten Mal zur Publikation. Auf dem Titelblatt des Manuskripts hat die Autorin die Jahre, in denen der Roman entstand, notiert: 1895-1900 1 . Er wurde also nach Eine Frage der Schuld (1892-1893) geschrieben. Während der erste Roman eine konkrete Antwort der Gattin auf Tolstois Kreutzersonate darstellt, ist das Lied ohne Worte die künstlerische Verarbeitung einer dramatischen Lebenssituation.
    Der schriftliche Nachlass Sofja Tolstajas befindet sich, ebenso