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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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fühlt sie sich jung an Körper und Geist. An den Donnerstagen besucht sie in eleganter Garderobe in Begleitung der zwölfjährigen Tochter Sascha Konzertabende, wo sie Plätze neben dem Komponisten abonniert hat. Fast jeden Abend sucht Tanejew das Haus der Tolstois auf. Wenn Tanejews Musik im Haus erklingt, vergisst Tolstaja alles, was sie umgibt.
    Inspiriert von den Begegnungen mit Tanejew fängt Sofja Andrejewna an, leidenschaftlich Klavier zu spielen. Sie nimmt Unterricht und beginnt mit ihren«zweiundfünfzig Jahren wieder zu repetieren und ihr Spiel zu vervollkommnen». Tolstajas Beschäftigung mit der Musik verdrießt indes ihren Mann. Er fühlt sich durch das pausenlose«Geklimper»gestört.«Je mehr ich die Musik liebte, desto mehr lehnte Lew Nikolajewitsch sie ab», erinnert sich Sofja Andrejewna. Tolstoi verachtet den Musiker, der seine Frau«hypnotisiert»hat. In seiner Kreutzersonate und dem Traktat Was ist Kunst? , an dem er während jener Zeit arbeitet , verdammt Tolstoi die Musik als sinnlichste aller Künste, die eine geradezu«krankhafte Erregung»hervorrufe.«Niemandem, weder dem Dichter noch dem Maler, laufen die Frauen so hinterher wie dem Schauspieler und vor allem dem Musiker», lautet das Urteil in seinem Tagebuch.
    Nun sieht Tolstoi sich selbst in der Situation seines Protagonisten aus der Kreutzersonate , in der Rolle des Ehemanns einer durch einen Musiker «verführten»Ehefrau. Seine Eifersucht ist so groß, dass er Sofja Andrejewna am 8. Juli 1897 einen Abschiedsbrief schreibt und sie verlassen will. Doch er bleibt.
    Tolstaja idealisiert den Musiker und ihre Beziehung zu ihm und ist sich dessen selbst bewusst.«Ein begabter Mensch legt all sein Gefühl und all seine Empfindsamkeit in seine Werke, doch gegen das Leben verhält er sich gelangweilt und teilnahmslos», hält sie in ihrem Tagebuch fest.«Gestern studierte ich die Romanzen Sergej Iwanowitschs… Die Musik dieser Romanzen trifft die Empfindungen, die die Worte auslösen, ganz genau… Im Leben hingegen ist er ein zurückhaltender und wenig mitteilsamer Mensch, der keinerlei Gefühlsäußerung zeigt, selten seine Gedanken ausspricht und stets gleichgültig gegen alles und jeden scheint. Und mein um so viel begabterer Mann! Welch tiefes Verständnis des menschlichen Seelenlebens ist in seinen Werken, welches Unverständnis und welches Desinteresse aber zeigt er für das Leben der ihm Nahestehenden! Mich, die Kinder, die Freunde kennt und versteht er überhaupt nicht.»
    Tolstaja ahnt, dass Tanejew ihre schwärmerischen Gefühle für ihn wohl kaum erwidert, dass er für die Reize des weiblichen Geschlechts nicht aufgeschlossen ist, dass die Gefühle für seinen Schüler Juscha Pomeranzew, seinen steten Begleiter, möglicherweise über die eines Lehrers für seinen Schüler hinausgehen. Die Abhängigkeit von Tanejew wird ihr zur Last, doch sie hat nicht die Kraft, von ihrem neuen«Abgott»und seiner Musik zu lassen.
    Der Musiker ist lange Zeit ahnungslos, dass er der Grund zahlreicher Eifersuchtsszenen im Hause Tolstoi ist. Er ist stolz auf die Freundschaft zum berühmten Schriftsteller, den er verehrt und dessen Werk er hochschätzt. Die Bewunderung, die ihm von dessen Gattin, einer achtbaren, um viele Jahre älteren Dame, entgegengebracht wird, schmeichelt ihm. Doch dann kommen auch ihm Gerüchte zu Ohren. Er begreift, dass er, ohne es zu wissen, die«Rolle einer Hauptperson in einem tragikomischen Stück»spielt, und zieht sich zurück, weicht seiner einstigen Musikfreundin aus.
    Viele Jahre später erinnert sich Tolstaja:«Dafür, dass er meiner trauernden Seele mit seiner Musik Linderung schenkte, wenngleich unwillentlich, ja er sich dessen nicht einmal bewusst war, bin ich Sergej Iwanowitsch auf ewig dankbar und habe nie aufgehört, ihn freundschaftlich zu lieben.»
    In ihrem Roman Lied ohne Worte verarbeitet Tolstaja ihre Hinneigung zur Musik und ihre platonische Zuneigung zu Tanejew. Der Titel ist Reminiszenz an ein Musikstück Felix Mendelssohn Bartholdys, das Tanejew herzzerreißend vorzutragen wusste und mit dem sie, wie mit einem Gebet, ihre Klavieretüden beendet.
    Wie einst in den frühen Jahren ihrer Ehe, als sie voller Enthusiasmus die Romane ihres Mannes abschrieb, sitzt sie nun wieder oft bis tief in die Nacht an ihrem kleinen Sekretär und schreibt an ihrer Erzählung.«Die Liebe zur Musik», erläutert sie später ihre Hauptidee,«sollte nicht von anderen Gefühlen erdrückt werden, sie sollte rein und unschuldig

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