Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
Leibeigenschaft im Februar 1861. In jenen Jahren des«Enthusiasmus und der Euphorie»war auch die Frauenfrage auf die Tagesordnung geschrieben worden.
Im Gegensatz zu zahlreichen Vertretern der fortschrittlichen Kreise der Gesellschaft, die die Emanzipation der Frau befürworteten, war Lew Tolstoi ganz einer patriarchalischen Lebenseinstellung verhaftet. Das Eheleben gestaltete sich daher zunächst ganz selbstverständlich nach seinen konservativen Vorstellungen. Sofja, die als junges Mädchen die beste Bildung einer Tochter der russischen Intelligenzija erhalten hatte, war bereit, alles zu tun, um den Ansprüchen ihres Mannes, den sie bewunderte, gerecht zu werden: Sie wurde Mutter seiner vielköpfigen Kinderschar, verwaltete das Landgut, stand dem Haushalt vor und kümmerte sich um die Finanzen.
Doch schon bald wurde der jungen Ehefrau die«Welt der Kinderstube und Windeln»zu eng. Nachdem sie zuerst nur für die Liebe zu ihrem Mann hatte leben wollen, fand sie bald ihre Bestimmung in der Rolle der Helferin und Assistentin bei seiner schriftstellerischen Arbeit. Sie liebte die Literatur, hatte seit ihrer Kindheit Tagebuch geführt und selbst die von ihrem späteren Ehemann hoch gelobte Erzählung Natascha geschrieben, die sie, wie auch ihre Tagebücher, vor der Hochzeit verbrannte.
Das Übertragen der oftmals fast unentzifferbaren, mit unzähligen Korrekturen übersäten Manuskripte Tolstois in Reinschrift wurde ihr, neben den Pflichten der Hausfrau und Mutter, liebste und wichtigste Aufgabe. Ihre eigenen literarischen Ambitionen gab Sofja Tolstaja auf und lebte ganz für das Werk ihres Mannes. Durch ihren unermüdlichen Einsatz unterstützt, verfasste Lew Tolstoi in den ersten zwei Jahrzehnten der Ehe mit Krieg und Frieden (1868/ 1869) und Anna Karenina (1878) jene Werke, die seinen Ruhm als Schriftsteller von Weltrang begründeten.
«Um die Wende der 1870er zu den 1880er Jahren», erinnert sich Tolstaja,«war in ihm jener innere Wandel, jenes Streben nach einem schlichteren und stärker am Geistlichen orientierten Leben zu spüren, das ihn bis ans Ende seiner Tage nicht mehr verließ.»Die zunehmende Verelendung der Bauern nach Aufhebung der Leibeigenschaft und die katastrophale Armut der unteren Schichten der Stadtbevölkerung, vor denen Tolstoi nicht wie so viele andere seines Standes die Augen verschließen wollte, ließen, so schreibt Sofja Andrejewna,«seinen Lebensfunken verlöschen».
Tolstoi wurde zum religiösen und sozialen Denker. Er übte starke Kritik an der Kirche, einer in seinen Augen demütigen Dienerin des Staates mit ihrem«undurchdringlichen Wald der Dummheit», und der bestehenden, auf Ausbeutung und Unterdrückung gründenden Gesellschaftsordnung. Er appellierte an die Wohlhabenden, ihren Reichtum an die Armen zu verteilen und selbst nach den Geboten der Bergpredigt ein sittlich geläutertes Leben in Bescheidenheit, selbstloser Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit zu führen. Seine Forderungen galten auch für seine eigene Familie:«Lew Nikolajewitsch begann unter unserem vermeintlich luxuriösen Leben zu leiden, das zu ändern mir die Kraft fehlte», heißt es in der Kurzen Autobiographie der Gräfin Sofja Andrejewna Tolstaja .«Wenn ich, dem Wunsch meines Mannes folgend, den gesamten Besitz weggegeben hätte (unklar ist, wem), mit neun Kindern in Armut zurückgeblieben wäre, hätte ich für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen, waschen, nähen und die Kinder ohne jede Bildung lassen müssen.»Eine Zeit der Konflikte begann.
Tolstois Erzählung Die Kreutzersonate (1890) mit ihren Angriffen auf die Institution der Ehe, die der Schriftsteller einst zum Ideal erhoben hatte, machte die Entfremdung zwischen den Ehepartnern offensichtlich. Nicht in der Rechtlosigkeit der Frau und ihrer Abhängigkeit vom Ehemann sieht Tolstoi die Ursache für die Übelstände des ehelichen Zusammenlebens begründet, sondern darin, dass die Frau für die ihr von der Gesellschaft zugewiesene Rolle Vergeltung an den Männern übe, indem sie diese durch Sinnlichkeit an sich binde und so eine«schreckliche Macht»über sie erhalte.
Tolstaja war entsetzt über Die Kreutzersonate . Am meisten verletzte sie, dass ihr Mann in seiner Anklage gegen die Ehe autobiographische Details nicht aussparte. Sofja Andrejewna empfand ihr Eheleben zunehmend als bedrückend und wollte sich nicht länger mit der Rolle des«Dienstmädchens des Schriftstellers und Gatten»zufriedengeben.«Ich möchte ein eigenes Leben, ein
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