Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
eigenes Werk und nicht die Arbeit an fremden Werken», heißt es in ihrem Tagebuch. Als erstes eigenes Werk in der Zeit ihrer Ehe verfasste Tolstaja eine literarische Antwort auf Die Kreutzersonate , in der sie der«erbarmungslosen Haltung Lew Nikolajewitschs der Frau gegenüber»eine weibliche Sicht entgegenstellte.«Mich braucht er nur als Gegenstand», klagt ihre Protagonistin Anna in Eine Frage der Schuld ihren Ehemann an, und damit beschreibt Tolstaja auch den wirklichen Grund für die Tragödie der Ehe sowohl in ihrem Roman als auch in der Kreutzersonate .
Für ihre Erzählung erhielt Tolstaja viel Bestätigung.«Tatsächlich, das Werk zeugte eindeutig von literarischer Begabung», schreibt die Herausgeberin des Sewerny westnik (Nordischer Bote), Ljubow Gurewitsch,«voll großer Darstellungskraft und leicht geschrieben, war es keineswegs von jenem Gefühl der Vergeltung beeinträchtigt, das ihr die Feder führte.»Gleichwohl schreckte Tolstaja vor der Veröffentlichung zurück. Doch sie war überzeugt:«Die Zeit für diese Erzählung wird kommen: nach meinem Tod. Bis dahin soll sie im Archiv liegen.»
Es ist ein Schicksalsschlag, der einige Jahre später den Anstoß zu ihrem zweiten Roman gibt.«Mein lieber Wanetschka ist gestern um 11 Uhr des Abends gestorben, mein Gott, und ich lebe», notiert Sofja Andrejewna am 23. Februar 1895.«Alles, alles ist von mir gegangen… Plötzlich ist das Leben zu Ende», schreibt sie über den Tod ihres jüngsten Sohnes, der unerwartet im Alter von nicht einmal sieben Jahren stirbt. Und auch der fast siebzigjährige Schriftsteller trauert um Wanetschka, den Liebling der Familie, wie er um keines seiner in den Jahren zuvor verstorbenen Kinder getrauert hatte.
Tolstajas Seelennot nach Wanetschkas Tod ist Ausdruck all ihres Kummers über die ungelösten Widersprüche ihrer Ehe der letzten Jahre, in denen zunehmend Meinungsverschiedenheiten um die richtige Lebensweise die Atmosphäre im Hause Tolstoi vergifteten.«Ich war in einer solch furchtbaren Verzweiflung, wie man sie nur einmal im Leben durchleidet», heißt es in ihren Erinnerungen.«Doch unerwartet und zufällig befreite mich aus diesem Zustand die Musik.»
Die«Tür zum Verständnis der Musik»öffnet Tolstaja Sergej Iwanowitsch Tanejew. Der Komponist und Pianist, mit der Familie Tolstoi seit 1889 bekannt, ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Moskauer Musiklebens. Von Nikolai Rubinstein im Alter von zehn Jahren als Wunderkind entdeckt, studierte er am Moskauer Konservatorium bei Rubinstein und Pjotr Tschaikowski, dessen Lieblingsschüler er wurde.«Tanejew ist eine herausragende Musikerpersönlichkeit», schreibt Tschaikowski an seine Gönnerin und Freundin Nadeshda von Meck,«und hat (besonders in Moskau) als Komponist ebenso wie als Virtuose und begabter Dirigent bereits von sich reden gemacht… Darüber hinaus ist er ein Mensch von außergewöhnlicher sittlicher Reinheit und höchster Wahrhaftigkeit. »
In den Wochen nach Wanetschkas Tod ist Sergej Tanejew häufiger Gast im Moskauer Haus der Tolstois und spielt für Sofja Andrejewna. Für den Sommer lädt sie ihn nach Jasnaja Poljana ein. Seine Mußestunden verbringt er im Kreise der Familie. Nach dem Essen spielt er mit dem Hausherrn Schach, wobei verabredet ist, dass Tanejew, wenn er verliert, etwas nach den Wünschen Tolstois zum Besten gibt, während wiederum Tolstoi, wenn er verliert, aus seinen Werken liest.
Sergej Tanejew ist kein gutaussehender Mann.«Ich sehe noch deutlich die kleinen Augen in seinem gutmütigen, roten, von einem kleinen Bärtchen eingerahmten Gesicht, das stets glänzte, als wäre es eingefettet», beschreibt Alexandra Tolstaja, die jüngste Tochter der Tolstois, den Musiker,«sowie seinen massigen Leib, der in den Kleidern keinen Platz zu haben schien.»Doch sein Spiel verzaubert Jasnaja Poljana.«Ich entsinne mich», heißt es in Sofja Tolstajas Erinnerungen,«wie ich fieberhaft auf die Abende und das wunderbare Klavierspiel Tanejews wartete, das meine bitteren seelischen Qualen linderte. Zuweilen ging ich tagsüber zum Nebengebäude, in dem er wohnte, und ließ mich, von ihm unbemerkt, dort in der Nähe nieder, um seinem Spiel zu lauschen, das aus den geöffneten Fenstern drang… Tatsächlich habe ich damals erst erkannt, was Musik bedeutet.»
Bei Tanejew findet Tolstaja jenen Trost und jene Ruhe, die ihr Mann ihr nicht zu geben vermag. Sie bewundert seine Musik und liebt die Gespräche mit ihm. In seiner Gegenwart
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