Liegen lernen
anders aus.
»Das finde ich nicht gut«, sagte sie und drehte sich von mir weg. Wir hatten gerade miteinander geschlafen. Es war später Nachmittag. Ich fühlte mich wie Wilfried. Es ging auf die Osterferien zu. Ich hatte ihr gesagt, ich würde wohl hängenbleiben, aber das sei mir egal, ich wollte auch weiterhin so viel Zeit mit ihr verbringen wie bisher. Und das fand sie jetzt nicht gut.
»Nimm mich nicht als Ausrede dafür, daß du zu faul bist.«
»Ich bin nicht faul«, sagte ich. »Ich kriege das einfach nicht hin. Alles, was über die vier Grundrechenarten hinausgeht, krie- »Aber in Latein und Französisch liegt es doch wohl nur daran, daß du nichts tust. Scheiß auf Mathe. Aber in Latein und Französisch mußt du was tun. Ich will nicht, daß du hängenbleibst.«
Wenn wir nicht bei ihr zu Hause waren oder spazierengingen oder ins Kino, saßen wir im Raskolnikow. Der Wirt begrüßte mich jetzt auch. Er hieß Uwe. Nachmittags waren wir zu zweit dort, aber wenn wir abends hingingen, waren wir meist zu siebt oder acht. Es waren immer ein paar aus der Oberstufe dabei, vor allem »Public Enemy No. l«. Es wurde viel über Politik geredet. Ich war jetzt so weit, daß ich auch ein paarmal was sagte. Über Musik konnte ich ganz gut mitreden, denn ich konnte den langen Schäfer anzapfen, der mir alles mögliche auf Kassette aufnahm. Ein paarmal fragte man mich, ob ich nicht mal ein paar Platten ausleihen könnte, und dann sagte ich, ich leihe nichts aus, könne aber Kassetten machen. Dann ging ich zum langen Schäfer, und der erledigte das für mich. Die Kassetten mußte ich ihm bezahlen, aber ich ließ mir das Geld wiedergeben, und bekam meist noch ein Bier ausgegeben, weil ich mir die Mühe gemacht hatte. Alle hielten mich für sehr ordentlich, denn der lange Schäfer beschriftete die Kassettenhüllen mit der Schreibmaschine.
Mein Verhältnis zu Mücke kühlte etwas ab. Er fragte mich ein paarmal, was mit mir los sei, und ich sagte, ich wisse nicht, was er meine. Er sagte, ich würde mich nicht mehr um ihn kümmern, und ich fragte ihn, ob ich seine Mutter sei. So etwas war er nicht gewohnt.
Dabei trafen wir uns noch immer, nur nicht mehr so häufig. Mücke paßte nicht, daß ich in allen möglichen Arbeitsgruppen dabei war. Er gab nicht unbedingt eine politische Meinungsäußerung ab, fand nur alles Scheiße und meinte, wenn es nach ihm ginge, müßte man den Russen mal richtig was auf die Schnauze geben. Aber das sagte er nur, weil er gern gegen alles war. Als ich ihn mal fragte, ob es nicht auch irgend etwas gäbe, für das er sich engagieren könnte, sagte er nur: »Freies Ficken für alle!« und ließ mich stehen. Seine Bemühungen auf diesem Gebiet waren nach wie vor nicht von Erfolg gekrönt. Er lief jetzt nicht mehr der schönen Claudia hinterher, sondern versuchte es bei einigen anderen. Es funktionierte nicht.
Ich kannte Mücke schon ewig. Wir waren zusammen aufgewachsen. Eigentlich hieß er Mircea Kuwelko. Sein Vater war in den Sechzigern aus der CSSR gekommen. Seine Familie wohnte nur ein paar Straßen weiter, aber ein paar entscheidende Straßen. Da, wo die Kuwelkos wohnten, wurde die Gegend schlecht und die Häuser schmutzig. Mücke und ich waren schon im Kindergarten zusammen, und schon damals war er ein eher aggressives Kind, das die schlimmen Wörter, die es zu Hause zu hören bekam, an den anderen Kindern ausprobierte. Bestrafungen waren zwecklos. Mücke war es egal, wenn man ihn zwei Stunden im Keller einsperrte. Von zu Hause war er noch ganz andere Sachen gewohnt. Ich weiß nicht, ob sein Vater ihn verprügelte, aber jedenfalls war er nicht nett zu ihm. Wenn ich mal bei Mükke zu Besuch war, wurde er ständig von seinem Vater angeschnauzt, er solle das Licht im Bad ausmachen, eine Flasche Bier holen oder ganz einfach nur das Maul halten, egal, ob er etwas gesagt hatte oder nicht. Herr Kuwelko hatte jede Menge Zeit, sich über alles mögliche aufzuregen, denn er hatte keine Arbeit. Er war Frührentner. »Auf Rücken.« Sein Rücken war kaputt, aber selbst Mücke wußte nicht, wieso und wovon.
In der Grundschule hatte man herausgefunden, daß Mücke sich nicht nur Kraftausdrücke merken konnte, sondern ziemlich clever war. Er zeigte das nicht gern. Aber es war unbestreitbar. Auf dem Gymnasium schrieb er sehr gute Klassenarbeiten. Niemand konnte ihn leiden, aber er war gut.
Er war sehr stolz auf seinen Bruder, auch wenn sein Bruder nichts taugte. Er klaute und prügelte sich und rauchte und
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