Liegen lernen
vermutete, sie kam auch nicht ständig in solche Situationen. Und ich konnte auch drauf verzichten.
Ich konnte nicht über Nacht bleiben. Am nächsten Mittag schon ging Brittas Flugzeug. Die Koffer standen schon gepackt in ihrem Zimmer. Wir küßten uns und streichelten uns, und dann sagte ich ihr, daß ich sie liebe, denn heute durfte ich das, immerhin hatte ich mich für sie zusammenschlagen lassen. Sie küßte mich und strich mir über den Kopf und sagte, sie würde mir schreiben. Da wußte ich noch nicht, daß ich sie erst sechs Jahre später wiedersehen würde.
Bis drei Uhr blieb ich da. Dann ging ich zu Fuß nach Hause. Den ganzen Weg über heulte ich. Ich kümmerte mich nicht darum, daß meine Eltern wach wurden, als ich heimkam.
Ich schlief nicht. Ich wartete auf den Sonnenaufgang. Es ging aber keine Sonne auf, es wurde nur heller. Der Himmel war milchig weiß. Dafür war es schon am frühen Morgen sehr warm und feucht. Es waren Ferien. Es gab keinen Grund, aus meinem Zimmer zu kommen. Ich hörte, wie meine Eltern aufstanden. Ich hörte meinen Vater im Bad und meine Mutter in der Küche. Ich setzte mich auf den Boden und legte den Kopf an meine Zimmertür. Ich konnte hören, daß sie auch heute morgen nicht miteinander redeten. Irgendwann schlug die Wohnungstür zu, und mein Vater war weg. Meine Mutter ließ mich schlafen. Sie ging ins Bad. Ich hörte Wasser rauschen. Sie schien zu duschen. Das wunderte mich. Bei uns wurde nicht geduscht. Bei uns wurde sich gewaschen und einmal in der Woche wurde gebadet. Ich für mich hatte das geändert, als Britta mich darauf aufmerksam machte, daß ich roch. Als sie es gesagt hatte, fiel es mir auch auf. Manchmal, wenn ich meinen Eltern zu nah kam, konnte ich sie riechen, und sie rochen nicht gut. Meine Mutter roch immer noch nach altem Blumenkohl, aber mittlerweile wohl nicht nur zwischen ihren Brüsten. Mein Vater roch irgendwie alt.
Gegen zehn kam ich aus meinem Zimmer und ging aufs Klo. Meine Mutter wünschte mir einen guten Morgen. Ich hatte ein paar Punkte gutgemacht, weil ich versetzt worden war.
Ich duschte ebenfalls. Ich rieb mich unter den Armen mit Deo ein und putzte mir die Zähne. Dann frühstückte ich. Danach putzte ich mir noch mal die Zähne, weil ich Brotkrumen in den Zwischenräumen hatte. Außerdem hatte ich den Nachgeschmack von Leberwurst im Mund. Dann ging ich in die Stadt und durchstreifte ein paar Plattenläden. Es gab eine neue von Springsteen, die hieß »Nebraska«. Auf dem Cover sah man durch eine Windschutzscheibe. Jenseits der Scheibe war schlechtes Wetter. Auf der Motorhaube lag Schnee. Ich kaufte die Platte und ging nach Hause und hörte sie mir an, zweimal hintereinander. From the town of Lincoln, Nebraska, with a sawed off four-ten on my lap, through the badlands of Wyoming, I killed ev’rything in my path . Dann hatte ich heiße Ohren von den Kopfhörermuscheln. Ich setzte den Kopfhörer ab und legte etwas anderes auf.
Irgendwann kam meine Mutter zu mir ins Zimmer.
»Kannst du nicht anklopfen?« fragte ich sie.
»Anklopfen? Seit wann das denn?«
»Seit heute.«
»Ach Junge.«
»Was ist denn?«
»Was hörst du denn da für komische Musik?«
»Keith Jarrett. ›The Köln Concert‹.«
»Wer?«
»Mußt du doch kennen.«
»War das ein Klavier?«
»Nein, es waren vier Waschbretter und drei kaputte Trompeten. Natürlich war das ein Klavier. Besser gesagt ein Flügel.«
»Und das gefällt dir?«
»Natürlich.«
»Aber das hatte doch überhaupt keine Melodie.«
»Ach Mutter.«
»Ach Junge, ich wollte doch nur mal hören, was du da hörst. Hast du die Platte geschenkt bekommen?«
»Ja.«
»Von deiner Freundin?«
»Kann sein.«
»Du hast also eine Freundin.«
Durfte ich jetzt bekennen?
»Es gibt da jemanden«, sagte ich.
»Willst du uns sie nicht mal vorstellen?«
»Nein.«
»Du verstehst doch, daß eine Mutter sich für so etwas interessiert.«
»Für so etwas?«
»Du weißt schon, was ich meine.«
»Ich möchte jetzt noch etwas Musik hören.«
»Du wirfst deine Mutter aus deinem Zimmer?«
»Ja«, sagte ich.
»Ach Junge! Manchmal möchte ich wirklich wissen, was du eigentlich willst!« seufzte meine Mutter einmal mehr, schüttelte den Kopf, verließ mein Zimmer und schloß die Tür besonders leise.
7
Es war erstaunlich leicht, etwas mit Gisela anzufangen. Über ihre Eltern bekam ich ihre neue Nummer heraus und rief sie an. Sie lebte in einer Wohngemeinschaft und studierte Medizin, so wie sie es vorgehabt
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