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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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mich nicht zu weit nach vorn, um nicht als Streber zu gelten, aber auch nicht zu weit nach hinten, um nicht den Eindruck zu vermitteln, ich wolle mich absondern. In den nächsten Minuten füllte sich der Raum zusehends, bis etwa vierzig Leute darin saßen.
    Pünktlich um Viertel nach neun betrat ein Mann den Raum, den ich trotz seiner Jugend selbstverständlich für den Professor hielt. Er trug eine helle Cordhose und braune italienische Schuhe, ein weißes Hemd und eine karierte Weste sowie eine zur Weste passende Fliege und ein dunkles Tweed-Jackett. Ich war einigermaßen überrascht, als der junge Mann am Pult vorbeiging und in meiner Reihe, nur ein paar Stühle von mir entfernt, Platz nahm. Er sah mich an und grüßte. Ich grüßte zurück. Er beugte sich vor, reichte mir die Hand und sagte:
    »Hallo, ich bin Beck!« Ich ergriff seine Hand und nannte meinen Namen.
    Dann ging die Tür wieder auf, und ein sehr merkwürdiger Mann kam herein. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt, schlank, und auf seinem Kopf saß sein Haar als militärisch kurz geschorene Bürste. Er trug ein grob kariertes Jackett mit breiten Revers, die aus der Mode gekommen waren, als es in Deutschland noch autofreie Sonntage gab, darunter ein Hemd aus der gleichen Zeit. Die Hose paßte sich dem in Stil und Farbe an. Seine Schuhe waren in einem sehr hellen Braun gehalten, hatten die Form von Fußballschuhen, nur ohne Stollen, und über den Spann zogen sich bis zur Spitze zwei schwarze Nähte. Der Mann stellte eine schwere Tasche aufs Pult und begann ohne Begrüßung zu reden, wobei er aus der Tasche ein Manuskript hervorholte, aus dem er während der nächsten Dreiviertelstunde vorlas. Zwischendurch tauchten immer wieder einige der Stichworte auf, die an der Tafel standen. Am Ende packte der Mann sein Manuskript wieder in die Tasche, redete aber trotzdem weiter, nahm die Tasche und ging, immer weiter redend, zur Tür, öffnete sie, verschwand und redete wahrscheinlich noch auf dem Flur weiter. Es war, wie wenn man im Zoo ein besonders merkwürdiges Tier sieht. Einige der Anwesenden sahen sich an und grinsten. Ich sah Beck an, und er übernahm das Grinsen für mich. Gemeinsam gingen wir hinaus.
    »Tja«, sagte Beck auf dem Flur, »das war Golinski, eine echte Erscheinung. Ich komme jedes Semester nur zur ersten Vorlesung, um zu sehen, wie weit es mit ihm inzwischen bergab gegangen ist. Laß uns einen schlechten Kaffee in der überfüllten Cafeteria trinken!«
    Der Kaffee war wirklich nicht besonders gut, aber auch nicht so schlecht, und besonders voll war es auch nicht, aber Beck fühlte sich unwohl. Er fand es dreckig und mochte die Leute nicht. Ich fand, es sah ein bißchen aus wie bei mir zu Hause: In der Ecke vergammelte eine Zimmerpalme, und überall lag Papier herum.
    Beck klärte mich darüber auf, daß es nicht unbedingt üblich sei, so viele Vorlesungen wie möglich zu besuchen. Er selber beschränke sich auf ein oder zwei pro Fach, die er dann dreioder viermal besuche, bevor er die Lust daran verliere. Wenn überhaupt etwas Interessantes geschehe, dann in den Seminaren. Wirklich spannend könne es an so einer riesigen, architektonisch total mißratenen Massenuniversität jedoch nur zugehen, wenn man sich in eine der Institutsbibliotheken zurückziehe. Ich sagte, ich hätte von dem ganzen Betrieb keine Ahnung. Beck meinte, ich solle mich nur an ihn halten, er kenne sich hier aus.
    In den nächsten Wochen tat ich genau das: Ich hielt mich an Beck. Wir freundeten uns an, und ich folgte seinen Ratschlägen, wo ich es für richtig hielt. Nach zwei Semestern wußte ich selbst, wo es langging. 
     
    Wenn es stimmt, daß der Höhepunkt der sexuellen Leistungsfähigkeit des Mannes mit neunzehn Jahren erreicht wird, dann war der bei mir ungenutzt verstrichen. Ich hatte mich ein paarmal mit Frauen getroffen. Ich hatte versucht, sie ins Bett zu kriegen, aber es hatte nicht geklappt. Es war wohl so, daß man Interesse heucheln mußte, wenn man bei ihnen landen wollte. Die meisten Frauen reagieren auf Sätze wie »Hör auf zu labern, laß uns lieber gleich ficken, mich interessiert auch nicht, wie du heißt!« gelinde gesagt nicht besonders wohlwollend. Aber an den Frauen, mit denen ich mich traf, interessierte mich nun mal nichts anderes. Sie waren so uninteressant. Was sie über Literatur wußten, wußte ich auch schon oder interessierte mich nicht. Politisch kamen sie mir naiv vor. Wenn man sie fragte, was sie für Musik hörten, sagten sie: »Och,

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