Life - Richards, K: Life - Life
ging erwartungsgemäß an die Decke.
Aber wahrscheinlich hatte er sowieso schon den Glauben daran verloren, dass ich jemals einen Beitrag zum Wohle der Gesellschaft leisten könnte. Schließlich hatte ich mittlerweile mit dem Gitarrespielen angefangen, und mit Kunst hatte Bert so gar nichts am Hut. Doch ich hatte nun mal keine anderen Talente als Kunst und Musik.
An diesem Punkt in meiner Geschichte bin ich jemandem sehr zu Dank verpflichtet, einer Frau, die mich vor dem Abstellgleis bewahrt hat: der fabelhaften Kunstlehrerin Mrs. Mountjoy, die sich beim Direktor für mich einsetzte. Andernfalls hätten sie mich ans Arbeitsamt abgeschoben und damit meinen gnadenlosen Abstieg eingeläutet. »Was kann er denn?«, fragte der Direktor, und Mrs. Mountjoy antwortete: »Er kann zeichnen.« Also durfte ich 1959 in einer Kunstschule anfangen, dem Sidcup Art College - der Brutstätte der Musikszene. Bert war davon allerdings wenig angetan. »Such dir eine ordentliche Arbeit!«
»Zum Beispiel Glühbirnen zusammenschrauben?« Ich ließ meinem Sarkasmus freien Lauf, was ich heute bereue. »Soll ich etwa Röhren und Glühbirnen basteln, Dad?«
Ich hatte bereits große Pläne, nur noch keinerlei Vorstellung, wie ich sie in die Tat umsetzen sollte. Dazu musste ich erst ein paar Leute kennenlernen. Aber ich spürte, dass ich es draufhatte. Dass es mir irgendwie gelingen würde, durch die Maschen des sozialen Netzes zu schlüpfen und oben mitzuspielen. Meine Eltern waren Kinder der Weltwirtschaftskrise, sie klammerten sich an ihre kleinen Errungenschaften und waren glücklich damit. Bert war ein Beispiel an Genügsamkeit, er war völlig frei von Ehrgeiz. Ich war zwar fast noch ein Kind und hatte keine Ahnung, was Ehrgeiz eigentlich bedeutete, aber ich fühlte mich eingeschränkt. Die Gesellschaft, die ganze Umgebung meiner Kindheit, das war mir alles viel zu eng. Ich weiß nicht, vielleicht lag es am Testosteron in meinem
jugendlichen Körper, vielleicht ist man als Teenager einfach so drauf. Aber mir war klar, dass ich da rausmusste.
Bild 2
KAPITEL 3
In dem ich die Kunstschule besuche, die meine Gitarrenschule wird. Ich habe meinen ersten Auftritt und kriege am selben Abend ein Mädchen ab. Am Bahnhof Dartford treffe ich Mick Jagger mit seinen Chuck-Berry-Platten. Wir fangen an zu spielen - Little Boy Blue and the Blue Boys. Im Ealing Club lernen wir Brian Jones kennen. Im Bricklayers Arms erringe ich Ian Stewarts Anerkennung, und um ihn herum formieren sich die Stones. Wir hätten gerne Charlie Watts dabei, können ihn uns aber nicht leisten.
I ch weiß nicht, was passiert wäre, wenn sie mich nicht in Dartford rausgeschmissen und zur Kunstschule geschickt hätten. In Sidcup war in Sachen Musik viel mehr los als bei der Kunst, genau wie in all den anderen Kunstschulen im Londoner Süden, die Vorstadt-Beatniks produzierten - und genau darauf war ich aus. Tatsächlich gab es am Sidcup Art College so gut wie gar keine »Kunst«. Schon nach kurzer Zeit wurde klar, wofür man hier abgerichtet wurde, und es hatte nichts mit Leonardo da Vinci zu tun. Regelmäßig tauchten für einen Tag oder auch eine Woche Trupps von frisch gebügelten kleinen Arschlöchern in Schlips und Kragen von J. Walter Thompson oder einer der anderen großen Werbeagenturen
bei uns auf, um die Kunststudenten zu verscheißern und so viele Mädels wie möglich aufzureißen. Sie kommandierten uns herum, und wir lernten, wie man Werbung macht.
Als ich in Sidcup anfing, hatte ich erst mal ein tolles Gefühl von Freiheit. »Heißt das, man kann hier tatsächlich rauchen?« Man war da mit lauter verschiedenen Künstlern zusammen, auch wenn es eigentlich gar keine richtigen Künstler waren. Aber sie waren anders, und darauf kam es mir damals an. Einige hier waren Exzentriker, andere einfach Möchtegerne, aber sie waren ein interessanter Haufen und unterschieden sich total von dem, was ich gewohnt war. Wir kamen alle von reinen Jungenschulen, und plötzlich saß man mit Mädchen in der Klasse. Jeder ließ sich die Haare wachsen, eben weil man es durfte. Es war gerade so das Alter dafür, und aus irgendeinem Grund fühlte es sich gut an. Und endlich konnte man anziehen, was man wollte; jeder von uns hatte vorher Schuluniform getragen. Man freute sich darauf, morgens den Zug zum Sidcup zu besteigen. Man freute sich wirklich darauf. In Sidcup war ich »Ricky«.
Heute ist mir klar, dass man uns mit ein paar heruntergekommenen Überresten einer hehren
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