Life - Richards, K: Life - Life
lobten uns gegenseitig sowieso ständig über den grünen Klee. Wir, Mick und ich, bewunderten ihre Harmonien und ihr Songwriting, sie beneideten uns um unsere Bewegungsfreiheit und unser Image. Das hätten sie auch gerne gehabt. Wir kamen hervorragend miteinander aus, die Beatles und wir. Außerdem stimmten wir uns richtig clever ab. Singles erschienen damals alle sechs bis acht Wochen, und wir wählten die Termine
so, dass wir uns möglichst nicht in die Quere kamen. Ich weiß noch, wie John Lennon bei mir anrief: »Also wir brauchen noch ein bisschen mit dem Abmischen.« - »Wir wären schon so weit.« - »Okay, dann macht ihr mal zuerst.«
Als wir unsere ersten Erfolge feierten, nahm uns das Touren voll in Anspruch. Wir hatten gar keine Zeit, Songs zu schreiben. In unseren Augen war das auch nicht unsere Aufgabe, wir kamen überhaupt nicht darauf. Für mich war das eine andere Abteilung, da war ich nicht zuständig. Ich saß im Sattel, aber die Hufe schmiedete bitte wer anders. Anfangs spielten wir nur Coverversionen ein: »Come On«, »Poison Ivy«, »Not Fade Away«. Wir brachten den Engländern amerikanische Musik näher, nichts weiter. Und das gelang uns verdammt gut, was sogar manchen Amerikanern auffiel. Dass wir es so weit geschafft hatten, war schon erstaunlich genug. Wir interpretierten die Musik, die wir liebten, und waren glücklich damit. Was wollten wir mehr? Aber Andrew ließ nicht locker. Er pochte auf die Regeln des Business. Ihr habt hier was am Laufen, was Großes, aber ohne zusätzliches Material, und zwar am besten neues Material, macht ihr es nicht mehr lange. Ihr müsst es probieren, und wenn ihr es selbst nicht draufhabt, müsst ihr euch eben ein paar Songwriter suchen. Allein von Coverversionen kann man nicht leben. Also eigene Songs schreiben! Ein Quantensprung, für den wir Monate brauchten - der aber letztlich viel leichter war als erwartet.
Ja, Andrew hat uns wirklich oben in Willesden in die berühmte Küche eingesperrt und gesagt: »Wenn ihr hier rauskommt, habt ihr einen Song.« Keine Ahnung, warum er ausgerechnet Mick und mich abkommandiert hat, und nicht Mick und Brian oder Brian und mich. Irgendwann stellte sich heraus, dass Brian wirklich
keine Songs schreiben konnte, aber das wusste Andrew damals noch nicht. Wahrscheinlich lag es daran, dass Mick und ich andauernd miteinander rumhingen. Andrew drückt es so aus: »Ich dachte mir einfach, wenn Mick in der Lage ist, Postkarten an Chrissie Shrimpton zu schreiben, und Keith in der Lage ist, Gitarre zu spielen, dann können die beiden auch Songs schreiben.« Eine ganze Nacht lang verbrachten wir in der verdammten Küche. Aber mein Gott, wir waren die Rolling Stones, die Könige des Blues. Wir hatten zu essen, und wenn wir mal mussten, pinkelten wir eben aus dem Fenster oder in die Spüle. Keine große Sache. »Wenn wir hier jemals wieder rauswollen, Mick«, meinte ich, »sollten wir uns was einfallen lassen.«
Wir saßen also in der Küche, und ich fing an, ein paar Akkorde zu klimpern. »It is the evening of the day« - das könnte von mir sein. »I sit and watch the children play« - das sicher nicht. Immerhin, zwei Zeilen und eine interessante Akkordfolge. Und dann, irgendwann in diesem Prozess, übernahm etwas anderes die Kontrolle. Ich will es nicht als mystisch bezeichnen, aber es ist tatsächlich nicht so richtig zu fassen. Du musst in etwa wissen, wo es langgeht, dann kommt der Rest von selbst. Als hättest du einen Samen gepflanzt, gibst ein bisschen Wasser dazu, und hey, plötzlich guckt das Pflänzchen aus der Erde und sagt: Bin ich nicht schön? Irgendwie entwickelte sich eine Stimmung - Reue, Liebeskummer. Vielleicht hatte einer von uns gerade mit seiner Freundin Schluss gemacht. Du musst nur den Auslöser finden, die erste Idee, dann ist es kinderleicht. Der erste Funken, das ist das Entscheidende. Weiß Gott, wo der herkommt.
»As Tears Go By« war nicht bewusst als kommerzieller Popsong angelegt. Er kam einfach aus uns raus. Uns war klar, was Andrew wollte: keinen Blues, keine Parodie, keine Kopie. Sondern was Eigenes. Gar nicht so leicht, einen guten Popsong zu schreiben. Es
war ein Schock, ähnlich der Entdeckung einer neuen Welt - auf einmal schrieben wir unser Material selbst, und ich stolperte über eine Begabung, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie hatte. Eine Erleuchtung, eine Offenbarung, wie bei Blake.
Marianne Faithfull nahm »As Tears Go By« als Erste auf und machte einen Hit daraus.
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