LIGEIA - Ein erotischer Horrorthriller (German Edition)
die Schuld am Schicksal seines Sohnes traf, hatte seine Schwäche auch seiner Frau das Leben gekostet. Evan weinte, doch seine Tränen glitten ungesehen ins Wasser. Ihre Lippen waren kalt. Dennoch küsste er sie und drückte ihren erschlafften Körper an seine Brust. Sein Atem ging stoßweise in lang gezogenen, bebenden Seufzern, während er seiner Trauer unter der Oberfläche seines ärgsten Feindes lautlos freien Lauf ließ. Das Meer hatte ihm alles genommen, was er jemals geliebt hatte.
Er spähte zurück in die Dunkelheit des Schiffes. Irgendwo dort drinnen schlief Ligeia. Evan war klar, dass er verschwinden musste, bevor sie aufwachte. Vielleicht hatten seine Schreie sie bereits geweckt. Er trug Sarah an den verrotteten Planken vorbei, die vom Schiffsrumpf übrig geblieben waren, und setzte den Fuß in den weichen, saugenden Schlamm des Meeresbodens. Er tat zwei Schritte, versuchte Ligeias Körperhaltung nachzuahmen, die sie auf dem Weg hierher eingenommen hatte, schlang einen Arm um den Leichnam seiner Frau herum und stieß sich mit den Füßen vom Boden ab, während er mit dem freien Arm das vor ihm liegende Wasser mit kräftigen Zügen teilte. Er stieg ein Stück weit in die Höhe, schaffte es jedoch, das Gleichgewicht zu halten. Sein Griff um Sarahs Körper lockerte sich, und dann geschah etwas weitaus Schlimmeres.
Der Druck des Wassers kehrte zurück.
Evan verlagerte das Gewicht, um Sarah zu halten, doch als er Atem holen wollte, schluckte er Wasser. Würgend blickte er zu dem wenige Meter hinter ihm liegenden Wrack zurück.
Mist! Er merkte, wie Ligeias Bann von ihm abfiel. Vielleicht lag es daran, dass er sich zu weit von ihr entfernt hatte. Eine zweckmäßige, äußerst wirksame Leine. Oder war sie aufgewacht und hatte das Band zwischen ihnen gekappt, um ihn an der Flucht zu hindern? Ganz egal, er musste weg. Innerlich entschuldigte er sich bei Sarah. Seine Lippen streiften flüchtig ihren Mund, als er sie auf den Meeresgrund sinken ließ. Ich komme zurück, gab er ihr ein lautloses Versprechen. Aber zuerst muss ich Hilfe holen.
Das Wasser rann seine Kehle hinab, und Evan zwang sich dazu, das Atmen einzustellen. Er trat mit den Füßen und stieß sich mit den Armen ab. Mittlerweile war er viel zu wütend und viel zu entschlossen, um sich von seiner Furcht an der Flucht hindern zu lassen. Anstatt panisch mit den Armen zu rudern, schwamm er nun, wirklich und wahrhaftig, zum ersten Mal in seinem Leben. Wie ein Sektkorken schoss er der rettenden Oberfläche entgegen, doch kurz vor dem Auftauchen versuchte er, Luft zu holen. Ein tiefer, grässlicher Schluck Wasser drang in seine Lungen ein. Vor lauter Schreck hätte er beinahe jegliche Konzentration eingebüßt. Doch dann durchbrach sein Kopf die Oberfläche und Evan atmete prustend den rettenden Sauerstoff ein, spuckte Salzwasser aus und blinzelte mit den Augen, um seine Umgebung zu fokussieren.
Zu seiner Rechten erstreckte sich der schwarze Felsfinger von Gull’s Point, direkt dahinter stand die Sonne am Horizont – ein tief orangefarbenes Rund im Morgengrauen, das bald heiß niederbrennen würde und einen warmen Spätsommervormittag verhieß. Vor seinem geistigen Auge sah Evan Ligeia, wie sie ihn an den Füßen packte und in die Tiefe hinabzog, und noch ehe seine Angst vor dem Wasser ihm weismachen konnte, dass er gar nicht in der Lage war, zu schwimmen, schwamm er bereits und hielt mit verzweifelten Schlägen auf den düsteren, von weißen, gurrenden Möwen gesäumten Felsen zu.
Das Meer lag ruhig vor ihm. Evan strampelte sich mit wilder Entschlossenheit ab und benötigte deshalb nur wenige Minuten, bis er die Hand nach der Kante eines algenbedeckten Felsblocks ausstrecken konnte. Wie das Haar einer Leiche hingen die grünen Algenstränge ins Wasser und tanzten in der Strömung auf und ab.
Evan zog sich aus dem Wasser hinaus, kletterte über die scharfkantigen Zacken übereinandergetürmter Felsbrocken, um den flachen Vorsprung zu erreichen. In der morgendlichen Brise klapperten ihm die Zähne, als er endlich nackt und völlig durchnässt an der Stelle der Landzunge stand, die von den Einheimischen als Aussichtspunkt bezeichnet wurde.
Evan starrte hinaus auf den Ozean; dorthin, wo er selbst sich noch vor Kurzem befunden hatte und Sarah tot auf dem Grund des Meeres auf ihn wartete. Erneut begann er zu weinen. Als nur wenige Meter entfernt eine schaumige Gischtkrone gegen die Felsen schlug, wäre ihm beinahe das Herz stehen geblieben. Für einen
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