Liliane Susewind – Ein kleines Reh allein im Schnee (German Edition)
alles weiß. Strahlend weiß. Der Schneesturm hatte sich über Nacht gelegt und die Landschaft unter einer dicken Schneeschicht zurückgelassen. Es gab nur noch Schnee ringsumher – das perfekte Winterwunderland.
Lilli rieb sich den Schlaf aus den Augen und versuchte, ihre störrischen Locken zurückzustreichen. Morgens standen sie immer wie ein wild gewordener Wischmopp zu allen Seiten ab. Zum Glück hatte sie noch ein Haarband, mit dem sie sich einen Zopf machen konnte. Dann sprang sie aus dem Bett und lief nach unten zur Haustür. Als sie sie öffnete, stand sie vor einer weißen Wand. Der Schnee lag so hoch, dass man nicht mehr zur Tür hinausgehen konnte!
»Morgen, Schatz.« Ihr Vater trat neben sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wir sind eingeschneit.«
Lilli staunte. Hier unten türmte sich der Schnee auch vor den Fenstern. Man konnte kaum noch hinaussehen!
»Du musst keine Angst haben«, sagte ihr Vater. »Wir haben genug Essen für alle.«
Lilli schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab keine Angst.«
Da zog plötzlich irgendetwas an ihren Haaren. Lilli fuhr herum. Schnapps war hinter ihr. Das kleine Reh hatte nach ihrem wippenden Zopf geschnappt! Mit schuldbewusstem Gesicht hing das Kitz nun an ihrem Haar und nuschelte: »Äh … hallo.«
Lilli grinste und rüttelte vorsichtig an ihrem Zopf.
Schnapps ließ los und blickte Lilli reumütig an. »’tschuldigung.«
»Macht nichts.« Lilli streichelte ihr über den Kopf. »Geht es deiner Mama besser?«
»Nein«, hauchte Schnapps und sah plötzlich ganz elend aus. »Sie ist sehr krank.«
Lilli krampfte erschrocken die Finger zusammen. »Was?« Fragend blickte sie ihren Vater an.
Der sagte mit ernster Miene: »Reenas Zustand hat sich leider verschlechtert, Lilli.«
»Aber wieso? Sie hat doch gestern ganz viel zu fressen bekommen! Sie sah doch schon besser aus!«
»Die Wunde hat sich entzündet.«
»O nein.« Lilli lief ein kalter Schauer über den Rücken, denn sie erinnerte sich an Nasibarts Worte. Wenn sich die Wunde entzündet, könnte das Reenas Ende sein …
Ihr Vater rieb sich mit einer erschöpften Geste die Augen. »Wenn wir nur das Hirschwundkraut besorgen könnten …«
»Wie sollen wir das machen?«, flüsterte Lilli und blickte fröstelnd auf die weiße Wand, die den Türrahmen ausfüllte. Heute war es noch schwieriger als gestern, ins Dorf hinunterzukommen! Sie waren komplett eingeschneit!
Lilli überlegte. »Ich werde mit Jesahja reden. Er hat bestimmt eine Idee«, sagte sie und schöpfte ein wenig Hoffnung. »Jesahja hat immer irgendeine Idee!« Mit diesen Worten lief sie in ihr Zimmer zurück und ließ sich auf Jesahjas Bettkante fallen. »Hey, aufwachen!« Sie stupste Jesahja gegen die Schulter. »Genug geschlafen! Du musst jetzt dein Megahirn einschalten und einen total genialen Plan entwerfen, wie wir ins Dorf runterkommen!«
Jesahja rührte sich nicht.
Lilli runzelte die Stirn. Sie fasste seine Schulter und drehte ihn zu sich um. Da sah sie, dass Jesahjas Gesicht tiefrot war. Auf seiner Stirn stand Schweiß, und sein T-Shirt war klatschnass.
»Jesahja?«
Jesahja stöhnte.
»Was ist denn los?« Lilli merkte, wie Angst in ihr hochstieg.
Jesahja stöhnte abermals. Es war ein langes, gequältes Stöhnen, das Lillis Herz einen Schlag lang aussetzen ließ.
Das hier war ernst. Sehr ernst.
Auf einmal stand ihr Vater neben ihr. Alarmiert legte er Jesahja die Hand auf die Stirn. Seine Miene verdüsterte sich.
»Was ist denn mit ihm?«, kiekste Lilli.
»Er hat hohes Fieber!«
Lilli schluckte.
»Bestimmt hat er sich bei seinen Eltern angesteckt.«
»Aber so schlimm war es bei ihnen doch gar nicht!«
»Das Herumwandern im Schneesturm gestern …« Lillis Vater zog eines von Jesahjas Augenlidern hoch. »Erweiterte Pupillen. Das ist ein schlechtes Zeichen.« Vorsichtig klopfte er Jesahja auf die Wange. »Hörst du mich? Kannst du sprechen?«
Ein weiteres gequältes Stöhnen war die Antwort. Auf der Stirn ihres Vaters erschienen tiefe Sorgenfalten.
»Hast du denn nichts, was ihm helfen könnte?«, fragte Lilli mit wankender Stimme und dachte an die vielen Tees, die ihr Vater im Küchenschrank hatte.
»Nein, bei solch hohem Fieber braucht man sehr starke Heilkräuter.« Ihr Vater rieb sich die Schläfen. »Belladonna D6 würde ihm bestimmt helfen«, murmelte er. »Aber das habe ich nicht da.«
»Was sollen wir denn jetzt machen?«
»Wir müssen ins Dorf!« Ihr Vater richtete sich auf. »Wir müssen einen Weg
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