Lilien im Sommerwind
war lange her, seit sie das letzte Mal jemanden in ihrer Nähe geduldet hatte. Jemanden, mit dem sie den
Tag verbringen, über Nichtigkeiten plaudern, lachen oder streiten konnte.
Jemanden, der da war, wenn die Nacht voller Geräusche, Bewegungen und Erinnerungen war.
Und was hatte sie zurückgegeben? Widerstand, gereizte Einwände und schließlich unausgesprochene Einwilligung.
»Du bist eben einfach eine Meckerziege«, murmelte sie und stieg aus dem Auto. Das zumindest konnte sie abstellen. Sie konnte tun, was Frauen normalerweise taten, um Abbitte zu leisten. Sie konnte ihm ein gutes Essen kochen und ihn dann verführen.
Die Vorstellung hob Torys Laune. Cade würde bestimmt überrascht sein, wenn sie sich zur Abwechslung einmal so benähme. Hoffentlich wusste sie noch, wie es ging. Es war an der Zeit, dass sie die Dinge wieder in die Hand nahm, dann konnte sie ihm auch ein wenig von seiner Verantwortung abnehmen.
Sie hatte versucht, Jack dadurch zu gefallen, und dann ...
Nein. Entschlossen verdrängte sie den Gedanken und schloss die Haustür auf. Cade war nicht Jack, und sie war nicht mehr dieselbe Frau, die sie in New York gewesen war. Vergangenheit und Gegenwart mussten sich nicht zwangsläufig miteinander verbinden.
Als sie eintrat, wusste sie jedoch, dass auch das nur eine Illusion war. Er war in ihrem Haus gewesen. Ihr Vater.
Sie besaß nur wenig, was er zerstören konnte, und wahrscheinlich hatte er darauf auch nicht die meiste Kraft verwendet. Er war nicht eingedrungen, um ihre Möbel kaputtzumachen oder Löcher in die Wände zu schlagen. Allerdings hatte er beides getan.
Der Sessel war umgekippt. Er hatte ihn von unten aufgeschlitzt. Die Lampe, die sie erst vor wenigen Tagen gekauft hatte, lag zerschmettert da, und eins der Tischbeine war zerbrochen wie ein Zweig.
Tory erkannte Form und Umriss der Dellen in den Wänden sofort. Das war seine Unterschrift. Er hatte sie oft an ihrem Körper hinterlassen, wenn er statt Gegenständen die Fäuste benutzt hatte.
Sie ließ die Tür offen stehen, für den Fall, dass er noch im Haus war.
Doch das Schlafzimmer war leer. Er hatte das Bettzeug heruntergerissen und auf die Matratze eingestochen. Das eiserne Bettgestell war allerdings unbeschädigt geblieben.
Die Schubladen ihrer Kommode waren herausgezogen, überall lagen Kleider herum. Nein, er hatte ihre Sachen nicht wirklich zerstören wollen, sonst hätte er ja auch die Kleider zerschnitten. Das hatte er früher schon einmal gemacht, damit sie lernte, sich richtig anzuziehen.
Er hatte nach Geld gesucht oder nach etwas von Wert, das er verkaufen konnte. Wenn er betrunken gewesen wäre, wäre es noch schlimmer gewesen. Aber so ... Als Tory sich bückte, um eine zerknüllte Bluse aufzuheben, stieß sie einen leisen Schrei aus. Unter den Kleidern lag die kleine, geschnitzte Holzdose, in der sie ihren Schmuck aufbewahrte.
Als sie sie leer fand, sank sie zu Boden. Sie besaß wenig echten Schmuck, das meiste waren nur Nachbildungen und leicht zu ersetzen.
Aber in der Dose waren auch die goldenen Granatohrringe ihrer Großmutter gewesen. Sie hatten schon ihrer Urgroßmutter gehört, und Gran hatte sie Tory zum ihrem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Ihr einziges Erbstück. Unbezahlbar. Unersetzlich. Weg.
»Tory!«
Als sie Cades erschreckte Stimme und seine Schritte hörte, sprang sie auf. »Ich bin in Ordnung. Ich bin hier!«
Er stürzte ins Zimmer und riss sie in seine Arme.
»Ich bin in Ordnung«, wiederholte sie. »Ich bin gerade nach Hause gekommen. Er war schon wieder weg.«
»Ich habe dein Auto gesehen und dann das Wohnzimmer. Ich dachte ...«Er drückte sein Gesicht in ihre Haare. »Bleib einfach einen Moment lang so stehen.«
Er wusste, wie es war, wenn einem das Entsetzen die Kehle zuschnürte. Er hatte gedacht, dieses Gefühl nie wieder spüren zu müssen.
»Gott sei Dank ist dir nichts passiert. Ich wollte eigentlich vor dir hier sein, aber ich bin aufgehalten worden. Wir rufen die Polizei, und dann kommst du mit nach Beaux Reves. Ich hätte dich heute früh schon dahin mitnehmen sollen.«
»Cade, dazu besteht doch kein Grund. Es war mein Vater.« Sie wandte sich ab und stellte die Holzdose auf die Kommode. »Er ist heute früh in den Laden gekommen. Wir haben uns gestritten und das hier ist doch lediglich seine Methode, mich wissen zu lassen, dass er mich immer noch bestrafen kann.«
»Hat er dich verletzt?«
»Nein«, leugnete sie rasch und automatisch, aber er hatte bereits
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