Lilien im Sommerwind
und allein aufzustehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie schwankten beide, als Faith sie hochzog.
»Wir gehen einfach nach hinten. Ich lasse den Hund hier.«
»Den was?«
»Mach dir keine Sorgen, er ist fast stubenrein. Hast du irgendwas Alkoholisches hier?«
»Nein.«
»Das hätte ich mir ja denken können. Die ordentliche Tory hat bestimmt keine Flasche Jim Beam in der Schublade. Und jetzt setz dich, hol tief Luft und erzähl mir, warum ich nicht die Polizei rufen soll.«
»Das würde alles nur noch schlimmer machen.«
»Warum?«
»Weil es mein Vater war, der gerade den Laden verlassen hat. Ich habe ihm das Geld gegeben, damit er verschwindet.«
»Er hat dir also die blauen Flecken gemacht.« Faith holte tief Luft. »Wahrscheinlich nicht zum ersten Mal. Nein, Hope hat mir nichts davon erzählt. Wahrscheinlich hast du sie schwören lassen, dass sie es geheim hält, aber ich hatte schließlich Augen im Kopf. Ich habe dich oft mit Schrammen und blauen Flecken gesehen. Du hast immer irgendeine Geschichte erzählt - du wärst die Treppe heruntergefallen oder so. Aber das Komische war, dass du mir nie ungeschickt vorkamst. An dem Morgen, als du wegen Hope zu uns kamst, warst du ganz besonders schlimm zugerichtet, soweit ich mich erinnere.«
Faith trat an den Mini-Kühlschrank, holte eine Flasche Wasser heraus und öffnete sie. »Hast du dich deshalb in jener Nacht nicht mit ihr getroffen? Weil er dich verprügelt hat?« Sie reichte Tory das Wasser. »Ich habe damals vermutlich der falschen Person die Schuld gegeben.«
Tory trank einen Schluck. »Schuld ist derjenige, der sie umgebracht hat.«
»Wir wissen nicht, wer das ist. Es ist tröstlicher, der Schuld ein Gesicht und einen Namen zu geben. Geh jetzt ans Telefon, ruf die Polizei und zeige ihn an. Chief Russ wird ihn suchen lassen.«
»Ich will nur, dass er geht. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«
»Die Menschen verstehen einander nie. Was Wunder.« Nachdenklich setzte sich Faith auf den Schreibtisch. »Mein Papa hat mich selten geschlagen. Ich glaube, ich habe ab und zu mal einen Klaps auf den Po bekommen, wahrscheinlich sogar seltener, als ich es verdient hätte. Aber er konnte brüllen wie ein Stier, und damit hat er mir ganz schön Angst eingejagt.«
O Gott, ich vermisse ihn so, durchfuhr es Faith.
»Nicht, weil ich dachte, er würde mich jetzt verprügeln«, fuhr sie ruhig fort, »sondern weil er mir jedes Mal so klar vor Augen führte, dass ich ihn enttäuscht hatte. Ich hatte Angst davor, ihn zu enttäuschen. Ich weiß, dass das etwas anderes ist als bei dir. Ich frage mich nur, was ich tun würde, wenn er ein anderer Vater gewesen wäre, ein anderer Mann.«
»Du würdest die Polizei rufen und ihn ins Gefängnis werfen lassen.«
»Genau. Aber das bedeutet nicht, dass ich dich nicht verstehe. Als Papa mit dieser Frau fremdging, habe ich das meiner Mutter nicht erzählt. Eine Zeit lang glaubte ich sogar, sie wüsste es nicht. Vielleicht habe ich ja gedacht, es geht vorüber. Ich irrte mich, aber allein der Gedanke beruhigte mich damals.«
Tory stellte die Wasserflasche auf den Schreibtisch. »Warum bist du so nett zu mir?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich habe dich noch nie sehr gemocht, aber das lag wohl hauptsächlich daran, dass ich immer das Gegenteil von dem tat, was Hope machte. Und jetzt schläfst du mit meinem Bruder, und ich merke, dass er mir mehr bedeutet, als ich mir eingestehen wollte. Daher erscheint es mir sinnvoll, dich besser kennen zu lernen, damit ich damit klarkomme.«
»Du bist also nett zu mir, weil ich mit Cade schlafe.«
Die trockene Formulierung brachte Faith zum Lachen. »Irgendwie schon. Und weil ich weiß, dass es dich sauer macht, sage ich dir auch, dass du mir Leid tust.«
»Du hast Recht.« Tory stand auf, dankbar dafür, dass das Zittern nachgelassen hatte. »Es macht mich sauer.«
»Natürlich. Du magst Mitleid nicht. Aber es ist eine Tatsache, dass niemand Angst vor seinem eigenen Vater haben sollte. Und kein Mann - blutsverwandt oder nicht - hat das Recht, einem Kind Wunden und Narben zuzufügen. Und jetzt sehe ich besser einmal nach, was der Welpe draußen angerichtet hat.«
»Welpe?« Tory riss die Augen auf. »Was für ein Welpe?«
»Mein Welpe. Ich habe ihr noch keinen Namen gegeben.« Faith schlenderte hinaus und lachte hell auf. »Ist sie nicht süß? Sie ist so ein kleiner Schatz!«
Der kleine Schatz hatte das Geschenkpapier gefunden und führte gerade einen erbitterten Kampf
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