Lilien im Sommerwind
schüttelte nur den Kopf und flüsterte: »Etwas ist in der Dunkelheit.«
Tory fuhr hoch. Ihr Herz hämmerte, und im Mund hatte sie den Geschmack von Angst und verbrannter Süße.
Etwas ist in der Dunkelheit. Sie hörte das Echo von Hopes Stimme und das Rascheln vor ihrem Fenster.
Und dann sah sie den Schatten, der in das Mondlicht trat.
Das Kind in ihr hätte sich am liebsten zusammengerollt, das Gesicht mit den Händen bedeckt, um unsichtbar zu werden. Sie war allein. Hilflos.
Irgendjemand wartete draußen, beobachtete sie. Trotz ihrer Angst konnte Tory es spüren. Sie versuchte, ihren Kopf klar zu bekommen, um das Gesicht, die Gestalt, den Namen sehen zu können, aber um sie herum war nur die gläserne Mauer des Entsetzens.
Das Entsetzen war jedoch nicht nur auf ihrer Seite.
Sie haben auch Angst, stellte sie fest. Angst vor mir. Warum?
Als sie langsam nach der Taschenlampe neben ihrer Decke tastete, zitterte ihre Hand. Sobald sie sie ergriffen hatte, ließ die Angst ein wenig nach. Sie würde nicht hilflos daliegen. Sie würde sich verteidigen, würde der Person entgegentreten, sie angreifen.
Das Kind war ein Opfer gewesen, die Frau war keins mehr.
Tory hockte sich hin, drückte auf den Schalter der Taschenlampe und schrie fast auf, als der Lichtstrahl aufleuchtete. Wie eine Waffe richtete sie ihn auf das Fenster.
Dort war nichts zu sehen außer dem Mond und Schatten.
Sie atmete keuchend, stand auf, eilte zur Tür und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Wer auch immer draußen war, konnte sie jetzt sehen. Sollen sie doch hinschauen, dachte sie. Sollen sie doch ruhig sehen, dass ich hier nicht im Dunkeln kauere.
Als sie vom Schlafzimmer in die Küche lief, schwankte der Lichtstrahl hin und her. Auch dort schaltete sie das Licht ein. Sollen sie mich doch sehen, dachte sie wieder, und zog ein Messer aus dem Messerblock, den sie bereits ausgepackt hatte. Sollen sie doch sehen, dass ich nicht hilflos bin.
Sie hatte die Türen verriegelt, eine Angewohnheit, die sie in der Stadt entwickelt hatte. Aber sie war sich sehr wohl bewusst, wie wenig eine solche Vorsichtsmaßnahme hier nützte. Ein derber Tritt gegen die Tür würde alle Schlösser sprengen.
Tory trat aus dem Licht in die Schatten des Wohnzimmers. Mit dem Rücken zur Wand konzentrierte sie sich darauf, tief und ruhig zu atmen. Sie konnte nichts sehen, wenn sich ihre Gedanken überschlugen, und sie konnte nicht klar denken, wenn ihr Blut rauschte.
Zum ersten Mal seit über vier Jahren bereitete sie sich darauf vor, sich der Gabe zu öffnen, mit der sie seit ihrer Geburt verflucht war.
Doch da drang ein Lichtstrahl durch das Vorderfenster und glitt durch das Zimmer. Wieder überschlugen sich Torys Gedanken wie Blätter, die von einem Auto aufgewirbelt werden.
Autoreifen knirschten über den Kies, ein ungeduldiges, forderndes Geräusch. Keuchend ging Tory zur Vordertür. Sie steckte die Taschenlampe in die Tasche ihres Trainingsanzugs, packte das Messer fester und öffnete die Tür.
Als der Fahrer die Autotür öffnete, erloschen die Scheinwerfer. »Was wollen Sie?« Tory richtete die Taschenlampe auf den Besucher und schaltete sie wieder ein. »Was tun Sie hier?«
»Ich besuche nur eine alte Freundin.«
Als Tory die Person erkannte, die aus dem Wagen ausgestiegen war, wurden ihre Knie weich. »Hope«, würgte sie hervor. Das Messer glitt ihr aus den klammen Fingern und fiel zu Boden. »O Gott.«
Noch ein Traum. Noch eine Episode. Oder vielleicht war es auch der Wahnsinn. Vielleicht war es immer schon der Wahnsinn gewesen.
Tory trat auf die Veranda. Das Mondlicht schimmerte auf ihren Haaren, in ihren Augen. Die Glastür quietschte, als sie sie öffnete. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen oder würdest eins erwarten.« Die Person bückte sich und hob das Messer auf. Prüfend fuhr sie mit einem Finger über die Schneide.
»Aber ich bin ganz lebendig.« Sie hielt den Finger hoch und zeigte den kleinen Blutstropfen. »Ich bin's, Faith«, fügte sie hinzu und trat ungefragt ins Haus. »Ich habe Licht gesehen, als ich vorbeifuhr.«
»Faith?« In Torys Kopf rauschte es. Die Freude, die wild in ihr aufgestiegen war, verebbte wieder, während sie den Namen noch einmal aussprach. »Faith.«
»Genau. Hast du was zu trinken?« Faith ging in die Küche.
Als ob ihr das Haus gehörte, dachte Tory, aber dann fiel ihr ein, dass es in der Tat den Lavelles gehörte. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und durch die Haare. Dann
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