Lilien im Sommerwind
dieser große, muskulöse Mann aus ihrer Großmutter gekommen war, bedeutete für sie eins der Rätsel des Lebens.
»Da ist sie ja!« Seine Stimme war genauso mächtig wie sein Körper.
Als er Tory hochhob und sie wie ein Bär an seine Brust drückte, bekam sie kaum Luft. Und wie immer brachte diese heftige Umarmung sie zum Lachen.
»Onkel Jimmy!« Tory drückte ihr Gesicht an seinen Hals und fühlte sich endlich, endlich zu Hause.
»J. R., du wirst dieses Mädchen noch wie einen Zweig zerbrechen!«
»Sie ist zwar klein« - J.R. zwinkerte Betsy zu -, »aber sie ist drahtig. Sorgst du dafür, dass wir hier ein paar Minuten ungestört sind, Betsy?«
»Mach dir keine Sorgen. Willkommen zu Hause, Tory«, fügte Betsy hinzu und schloss die Tür hinter sich.
»So, jetzt setz dich erst einmal. Kann ich dir etwas anbieten? Coca Cola?«
»Nein, danke, nichts.« Tory setzte sich nicht, sondern hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich hätte schon gestern zu dir kommen sollen.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken. Jetzt bist du ja hier.« J.R. lehnte sich an seinen Schreibtisch. Seine blonden Haare waren mit den Jahren zwar nicht matter geworden, aber sie waren jetzt von zahlreichen silbernen Strähnen durchzogen. Der Schnauzbart, der seinem runden Gesicht etwas Verwegenes verlieh, war sogar ganz weiß, genau wie seine buschigen Augenbrauen. Die Augen waren mehr blau als grau, und seit Tory denken konnte, blickten sie freundlich in die Umgebung.
Jetzt grinste J. R. sie breit an. »Mädel, du siehst aus wie eine Städterin! Genauso hübsch und poliert wie ein Fernsehstar. Boots wird begeistert sein, dich herumzeigen zu können.« Er lachte, als Tory automatisch zusammenzuckte. »Ach komm, sei ein bisschen nachsichtig mit ihr, ja? Sie hat nie die Tochter bekommen, nach der sie sich so sehnte, und Wade spielt einfach nicht mit und heiratet, um ihr kleine Enkeltöchter zu schenken, die sie hübsch anziehen kann.«
»Wenn sie versucht, mir eine Spitzenschürze umzubinden, werden wir Ärger bekommen. Aber ich gehe sie besuchen, Onkel Jimmy. Ich muss mich nur erst einrichten. In den nächsten Tagen kommt die Ware und meine Ladeneinrichtung.«
»Du bist bereit zu arbeiten, nicht wahr?«
»Ich bin ganz versessen darauf. Ich wollte diesen Schritt schon lange tun. Ich hoffe, bei der Progress Bank and Trust ist noch Platz für ein weiteres Konto.«
»Wir haben immer Platz für mehr Geld. Ich mache gleich selbst alles für dich fertig, Schätzchen. Ich habe gehört, du hast das alte Haus gemietet?«
»Hält Lissy Frazier mittlerweile den Rekord für das größte Mundwerk in Progress?«
»Sie liegt Kopf an Kopf mit ein paar anderen. Nun, ich will dich nicht bedrängen, aber Cade Lavelle würde dich nicht zu dem Mietvertrag zwingen, wenn du deine Meinung ändern möchtest. Boots und ich hätten gern, dass du bei uns wohnst. Wir haben weiß Gott genug Platz.«
»Danke, Onkel Jimmy ...«
»Nein, warte. Sag jetzt nur nicht >aber<. Du bist eine erwachsene Frau. Ich habe schließlich Augen im Kopf. Aber ich mag einfach die Vorstellung nicht, dass du dort draußen wohnst, in diesem Haus. Ich glaube nicht, dass das gut für dich ist.«
»Gut oder nicht gut, es ist notwendig. Er hat mich in diesem Haus geschlagen.« Als J. R. die Augen schloss, trat Tory einen Schritt näher. »Onkel Jimmy, ich sage das nicht, um dir wehzutun.«
»Ich hätte etwas dagegen unternehmen müssen. Ich hätte dich dort herausholen müssen. Euch beide.«
»Mama wäre nicht gegangen.« Torys Tonfall war jetzt ganz sanft. »Das weißt du doch.«
»Ich wusste damals nicht, wie schlimm es war. Ich habe nicht genau genug hingesehen. Aber heute weiß ich es, und ich mag gar nicht daran denken, dass du da draußen bist und dich an all das erinnerst.«
»Ich erinnere mich überall daran. Und dort zu wohnen beweist mir, dass ich mich dem Ganzen stellen kann. Ich kann damit leben. Ich habe keine Angst mehr vor ihm. Das lasse ich nicht zu.«
»Warum kommst du nicht wenigstens für ein paar Tage zu uns? Bis du mit deinen Vorbereitungen fertig bist.« Als sie den Kopf schüttelte, seufzte J. R. nur. »Es ist mein Verhängnis, dass ich von lauter eigensinnigen Frauen umgeben bin. Na, dann setz dich mal, damit ich den Papierkram erledigen und dir dein Geld abknöpfen kann.«
Mittags um zwölf läuteten die Glocken der Baptistenkirche. Tory trat einen Schritt zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Schaufenster funkelte wie ein
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