Lilien im Sommerwind
bestimmten Leuten immer etwas, das wusste Margaret. Man konnte damit ihr Schweigen, ihre Loyalität und das kaufen, was sie für ihre Ehre hielten.
Sie wählte ihre Kleidung für das Treffen besonders sorgfältig: ein adrettes, marineblaues Kostüm und dazu die Perlenkette ihrer Großmutter. Wie jeden Morgen hatte sie sich dezent geschminkt.
Aussehen, Charakter und Stellung waren Schwert und Schild zugleich.
Um Punkt acht Uhr fünfzig verließ sie das Haus, wobei sie zu Lilah sagte, sie habe einen frühen Termin und würde dann in Charleston an einem Mittagessen teilnehmen. Gegen drei Uhr dreißig würde sie zurück sein.
Margaret rechnete damit, dass die Angelegenheit, die sie zu erledigen hatte, bevor sie weiter nach Süden fuhr, nicht länger als dreißig Minuten in Anspruch nehmen würde, hatte aber dennoch fünfundvierzig Minuten dafür eingeplant, damit sie vor dem Mittagessen noch Besorgungen machen konnte.
Sie hätte sich einen Fahrer nehmen und die Besorgungen einem Dienstboten überlassen können. Aber das waren Annehmlichkeiten, die sie nicht zulassen konnte.
Die Herrin von Beaux Reves musste sich ihrer Meinung nach in der Stadt zeigen, bestimmte Läden selbst besuchen und die richtigen Beziehungen zu den richtigen Kaufleuten unterhalten. Diese Verpflichtung konnte sie nicht aus Bequemlichkeit vernachlässigen.
Margaret tat mehr, als nur großzügige Schecks für ihre verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen ausschreiben. Sie saß in mehreren Komitees. Die Mitgliedschaft im örtlichen Kunstrat und in der Historischen Gesellschaft mochten zwar auf ihr persönliches Interesse zurückzuführen sein, aber sie steckte dennoch beachtlich mehr Zeit, Energie und Geld hinein als nötig.
In den mehr als zweiunddreißig Jahren, die sie nun schon Herrin auf Beaux Reves war, hatte sie nie ihre Pflichten vernachlässigt. Und das hatte sie auch heute nicht vor.
Margaret zuckte nicht zusammen, als sie an den moos- behangenen Bäumen am Rande des Sumpfes vorbeifuhr, und sie veränderte auch ihre Geschwindigkeit nicht. Ihr fiel nicht auf, dass die Planken der kleinen Brücke erneuert worden waren und der Sumach abgehackt worden war.
Ruhig fuhr sie an dem Ort vorbei, an dem ihre Tochter gestorben war. Und wenn es sie doch schmerzte, so sah man es ihrem Gesicht nicht an.
Man hatte es ihr auch nicht angesehen, als das Kind beerdigt wurde, obwohl sie damals das Gefühl hatte, man habe ihr das Herz aus dem Leibe gerissen.
Margarets Gesicht blieb gefasst, als sie in den schmalen Weg einbog, der zum Sumpfhaus führte. Sie parkte hinter Torys Kombi, ergriff ihre Tasche, stieg aus dem Auto, warf die Tür zu und schloss ab.
Sie war seit sechzehn Jahren nicht mehr am Sumpfhaus gewesen. Sie wusste, dass es renoviert worden war. Das hatte Cade veranlasst und trotz ihrer schweigenden Missbilligung bezahlt. Ihrer Meinung nach änderten frische Farbe und blühende Büsche nichts an dem, was geschehen war.
Eine Hütte. Ein Slum. Man hätte sie besser abgerissen, statt sie zu vermieten. In der Zeit, als ihre Trauer am größten war, hätte sie die Hütte am liebsten niedergebrannt und Feuer im Sumpf gelegt, um zu sehen, wie alles in Flammen aufging.
Aber das war natürlich albern. Und sie war keine alberne Frau.
Das Haus gehörte den Lavelles und musste deshalb - trotz allem - erhalten und an die nächste Generation weitergegeben werden.
Margaret stieg die Treppe hinauf und klopfte an den hölzernen Rahmen der Glastür.
Tory hatte gerade nach einer Tasse greifen wollen und hielt mitten in der Bewegung inne. Sie war gerade erst aufgestanden, weil sie so spät eingeschlafen war, und musste sich noch anziehen. Sie hatte gehofft, der Kaffee würde ihre Lebensgeister so weit wecken, dass sie genügend Begeisterung aufbringen konnte, um zum Laden zu fahren und die letzten Vorbereitungen für die Eröffnung zu treffen.
Die Unterbrechung war nicht nur höchst unwillkommen, sie war geradezu unerträglich. Tory wollte niemanden sehen, mit niemandem reden. Am liebsten wäre sie wieder ins Bett gegangen und in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen - was ihr in der Nacht versagt geblieben war.
Dennoch ging sie zur Tür, weil es eine Schwäche gewesen wäre, das Klopfen zu ignorieren. Das zumindest hätte Margaret verstanden.
Als Tory Hopes Mutter vor sich stehen sah, fühlte sie sich sofort schuldbewusst und verlegen. »Mrs. Lavelle!«
»Guten Morgen, Victoria.« Margarets eiskalter Blick glitt über Torys bloße Füße, den
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