Lilien im Sommerwind
getötet haben.«
Tory wurde blass, und zum ersten Mal zitterten ihre Hände. »Ich habe Jonah Mansfield nicht getötet.« Sie holte tief Luft. »Ich habe ihn nur nicht gerettet.«
Das war ihre wunde Stelle, und Margaret stieß sofort hinein. »Die Familie und auch die Polizei und die Presse haben Sie verantwortlich gemacht. Ein weiteres Kind, das wegen Ihnen gestorben ist. Wenn Sie hier bleiben, wird darüber geredet werden. Über die Rolle, die Sie dabei gespielt haben. Und es wird übles Gerede sein.«
Wie dumm von mir, dachte Tory, zu glauben, dass niemand mich mit der Frau in Verbindung bringen würde, die ich in New York war. Mit dem Leben, das ich mir dort aufgebaut und wieder zerstört habe.
Doch sie konnte nichts daran ändern. Sie musste sich der Tatsache stellen. »Mrs. Lavelle, ich habe mein ganzes Leben lang mit üblem Gerede gelebt. Aber ich habe gelernt, dass ich es in meinem eigenen Haus nicht dulden muss.« Tory stand auf. »Ich muss Sie bitten zu gehen.«
»Ich werde dieses Angebot nicht noch einmal machen.«
»Das habe ich auch nicht erwartet. Ich bringe Sie hinaus.«
Mit zusammengekniffenen Lippen erhob Margaret sich und ergriff ihre Tasche. »Ich kenne den Weg.«
Tory wartete, bis sie das Wohnzimmer durchquert hatte. »Mrs. Lavelle«, sagte sie dann leise, »Cade ist ein so viel wertvollerer Mensch, als Sie glauben. Und Hope war es genauso.«
Starr vor Schmerz und Wut packte Margaret die Türklinke. »Sie wagen es, von meinen Kindern zu sprechen?«
»Ja«, murmelte Tory, als die Tür zufiel und sie wieder allein im Haus war, »ja, ich wage es.«
Sie verriegelte die Tür. Das Klicken war wie ein Symbol. Jetzt konnte nichts mehr eindringen, wenn sie es nicht wollte. Und nichts, was bereits im Haus war, würde sie verletzen. Tory ging ins Badezimmer und zog sich rasch aus. Dann drehte sie das Wasser an der Dusche so heiß wie möglich und stellte sich unter den dampfenden Strahl.
Dort ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Das ist keine Schwäche, sagte sie sich. So wie das Wasser ihre Haut reinigte, so wuschen die Tränen ihre Bitterkeit weg.
Sie dachte an das andere tote Kind und ihre eigene Hilflosigkeit.
Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte und das Wasser bereits kühl wurde. Dann wandte sie ihr Gesicht dem kalten Strahl entgegen.
Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, wischte sie mit dem Handtuch den Dampf vom Spiegel. Leidenschaftslos und ohne Mitleid betrachtete sie ihr Gesicht. Angst, Leugnen, Ausweichen. All diese Gefühle hatte sie gehabt, gestand sie sich ein. Sie war zurückgekommen und hatte sich in ihrer Arbeit, der täglichen Routine und den vielen Kleinigkeiten vergraben.
Nicht ein einziges Mal hatte sie sich für Hope geöffnet. Nicht einmal war sie zu den Bäumen gegangen und hatte die Gedenkstätte besucht, die dort angelegt worden war. Nicht einmal war sie ans Grab ihrer einzigen wirklichen Freundin gegangen.
Nicht einmal hatte sie sich dem wahren Grund gestellt, warum sie hier war.
War das etwas anderes als weglaufen?, fragte sie sich. Hätte sie dann nicht auch das Geld nehmen und irgendwohin ziehen können?
Feigling. Cade hatte sie einen Feigling genannt. Und er hatte Recht gehabt.
Tory zog ihren Bademantel an und ging in die Küche, um die Nummer herauszusuchen. Dann wählte sie, wartete.
»Guten Morgen. Biddle, Lawrence und Wheeler.«
»Hier spricht Viktoria Bodeen. Kann ich Ms. Lawrence sprechen?«
»Einen Augenblick bitte, Ms. Bodeen.«
Kurz darauf war Abigail in der Leitung. »Tory, wie nett, von Ihnen zu hören! Wie geht es Ihnen? Haben Sie sich schon eingelebt?«
»Ja, danke. Ich eröffne den Laden am Samstag.«
»So schnell schon? Sie müssen ja Tag und Nacht gearbeitet haben. Ich komme demnächst auf einer Geschäftsreise bei Ihnen vorbei.«
»Das wäre schön. Abigail, ich muss Sie um einen Gefallen bitten.«
»Aber klar. Ich schulde Ihnen noch was für Mamas Ring.«
»Was? Oh, das hatte ich ganz vergessen.«
»Ich hätte ihn wahrscheinlich erst in ein paar Jahren gefunden, wenn überhaupt. Ich benutze diese alten Akten kaum. Was kann ich für Sie tun, Tory?«
»Ich ... ich hoffe, Sie haben eine Verbindung zur Polizei. Zu jemandem, der mir Informationen über einen alten Fall beschaffen kann. Ich möchte nicht ... ich denke, Sie verstehen, dass ich nicht selbst bei der Polizei nachfragen möchte.«
»Ich kenne ein paar Leute. Ich tue, was ich kann.«
»Es war ein Sexualmord.« Unbewusst begann Tory ihre rechte Schläfe zu reiben
Weitere Kostenlose Bücher