Lilien im Sommerwind
Greifen nah gewesen. Sie hatte Hope zugerufen, sie würde mit dem Pferd losfliegen und auf dem höchsten Türmchen landen.
Beim Abstieg hatte sie sich fast den Hals gebrochen und noch Glück gehabt, dass sie auf ihrem Hintern statt auf dem Kopf gelandet war. Aber der blaue Fleck am Steißbein war nichts gewesen gegen den erhabenen Moment auf dem Pferderücken.
Zu ihrem achten Geburtstag hatte Hope ihr dann die Kugel geschenkt, und sie war das Einzige, was Tory aus diesem Lebensjahr behalten hatte.
Heute wie damals säumten Eichen und blühende Magnolien die Gräber und dämpften das Licht.
Es war ein angenehmer Spaziergang über den Friedhof zu der Familiengruft. Sie und Hope waren zahllose Male hier entlanggegangen, sommers wie winters. Hope hatte sich gern die Namen auf den Steinen angesehen und sie laut hergesagt, damit sie ihr Glück brachten.
Jetzt ging Tory allein zum Grab und dem Marmorengel mit der Harfe, der es bewachte. Und auch sie sagte den Namen laut.
»Hope Angelica Lavelle. Hallo, Hope.«
Tory hockte sich auf das weiche Gras. Ein leichter, warmer Wind trug den süßen Duft der rosafarbenen Babyrosen mit sich, die neben dem Marmorengel blühten. »Entschuldige, dass ich nicht früher gekommen bin. Ich habe es immer wieder aufgeschoben, aber ich habe in den letzten Jahren so oft an dich gedacht! Ich hatte nie wieder eine Freundin wie dich, eine, der ich alles sagen konnte. Ich hatte ein solches Glück, dass es dich gab!«
Während Tory die Augen schloss, um sich den Erinnerungen hinzugeben, beobachtete sie jemand aus dem Schutz der Bäume. Jemand, der die Fäuste so fest geballt hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten. Jemand, der wusste, was es bedeutete, das Unaussprechliche zu ersehnen. Jahr für Jahr das Verlangen danach tief im Herzen zu begraben.
Achtzehn Jahre, und sie war zurückgekommen. Er hatte gewartet und beobachtet, und er hatte immer gewusst, dass sie eines Tages dorthin zurückkommen würde, wo alles begann.
Was für ein hübsches Bild sie abgegeben hatten. Hope und Tory, Tory und Hope. Die dunkle und die helle, die behütete und die vernachlässigte. Nichts, was er jemals zuvor getan hatte, nichts, was er nach jener Nacht im August getan hatte, hatte ihm die gleiche Erregung gebracht. Er hatte versucht, den Moment wieder einzufangen, immer, wenn sich der Druck heiß in ihm aufstaute, hatte er jene Nacht und ihre reine Pracht erneut nachvollziehen wollen.
Nichts jedoch war ihr gleichgekommen.
jetzt bedeutete Tory eine Bedrohung für ihn. Er konnte leicht und schnell mit ihr fertig werden. Aber dann würde er keine Erregung mehr darüber verspüren, am Rande des Abgrunds zu stehen. Vielleicht, vielleicht hatte er gerade darauf die ganze Zeit gewartet. Dass sie zurückkam und für ihn wieder greifbar wurde.
Er würde jedoch bis zum August warten müssen. Eine heiße Nacht im August, wenn alles so war wie vor achtzehn Jahren.
Er hätte sie jederzeit aus dem Weg räumen können. Sie umbringen können. Aber er war ein Mann, der an Symbole glaubte, an das große Bild. Es musste hier geschehen. Hier, wo alles begonnen hatte, und während er sie beobachtete, befriedigte er sich selbst, wie er das auch früher getan hatte, wenn er Tory aus seinem Versteck beobachtet hatte. Hope und Tory. Tory und Hope.
Wo alles begonnen hatte, dachte er wieder. Und wo alles enden würde.
Ein Schauer durchrann Tory, als ob ein eisiger Finger ihre Wirbelsäule berührte. Sie blickte sich unbehaglich um, hielt das Gefühl aber für ein Produkt der Atmosphäre und ihrer eigenen Gedanken.
Schließlich war sie hier eingedrungen. Das Licht wurde schwächer, dicke graue Wolken zogen von Osten heran und verdeckten die Sonne. Heute Nacht würde es Regen geben.
Tory wollte sich nicht mehr lange hier aufhalten.
»Es tut mir so Leid, dass ich in jener Nacht nicht gekommen bin! Ich hätte mich fortschleichen müssen, trotz der Schläge. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass ich mich seinen Wünschen widersetzen und das Haus verlassen könnte. Niemand hätte nach mir gesehen. Ich konnte dir damals nie erklären, wie es war, wenn er mich mit seinem Gürtel verprügelte. Wie mit jedem Schlag mein Mut, mein ganzes Selbst schwand, bis ich am Schluss nur noch aus Angst und Erniedrigung bestand. Wenn ich den Mut gehabt hätte und in jener Nacht aus dem Fenster geklettert wäre, hätte ich uns vielleicht beide retten können. Ich werde es nie erfahren.«
Um sie herum zwitscherten die Vögel. Es war
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