Lilien im Sommerwind
ihn jetzt fassen, wird er ... nun, sie werfen ihn wieder ins Gefängnis.«
»Ja, vermutlich.« Tory hatte sich eigentlich immer schon gefragt, warum er bisher noch nie hinter Gittern gelandet war.
»Sarabeth ist außer sich vor Angst.« Ohne nachzudenken tunkte J. R. seinen Keks in den Tee, eine Angewohnheit, die seine Frau rasend machte. »Sie hat kaum noch Geld und ist krank vor Sorge. Ich fahre morgen zu ihr, damit ich mir einen besseren Eindruck verschaffen kann.«
»Und du meinst, ich sollte mitkommen.«
»Nein, Liebes, die Entscheidung überlasse ich dir. Schließlich kann ich das auch allein regeln.«
»Aber das brauchst du nicht. Ich komme mit.«
»Wenn du das wirklich möchtest, würde ich mich freuen. Ich wollte so früh wie möglich fahren. Kannst du um sieben Uhr fertig sein?«
»Ja, natürlich.«
»Gut. Das ist prima.« Verlegen stand er auf. »Wir kriegen das schon geregelt, du wirst sehen. Ich hole dich dann morgen früh ab. Und jetzt setz dich ruhig hin und trink deinen Tee.« Er tätschelte ihr den Kopf, bevor sie aufstehen konnte. »Ich finde schon allein hinaus.«
»Es ist ihm peinlich«, murmelte Tory, als die Haustür hinter ihm zugefallen war. »Für sich selbst, für mich, für meine Mutter. Er hat es mir in deiner Anwesenheit erzählt, weil er das Gerede von Lissy Frazier mitbekommen hat und es für besser hielt, dass du jetzt bei mir bist.«
Cade blickte sie unverwandt an. Sie hatte noch keine Reaktion gezeigt und ihre Beherrschung erstaunte und frustrierte ihn zugleich. »Hat er Recht?«
»Ich weiß nicht. Ich bin daran gewöhnt, allein zu sein.
Wunderst du dich, dass ich nicht besonders besorgt bin wegen meines Vaters oder meiner Mutter?«
»Nein. Ich frage mich nur, was zwischen euch geschehen ist, dass du so kühl und gelassen bist. Oder warum du entschlossen bist, keine anderen Empfindungen zu zeigen.«
»Warum sollte ich mir Sorgen machen? Was geschehen ist, ist geschehen. Meine Mutter möchte gern glauben, dass mein Vater nicht das getan hat, was man ihm vorwirft. Aber er hat es natürlich getan. Wenn er getrunken hat, wird er schnell auch außerhalb seiner eigenen vier Wände gewalttätig.«
»Hat er deine Mutter missbraucht?«
Tory verzog ironisch die Mundwinkel. »Nicht, solange ich da war. Da brauchte er das nicht.«
Cade nickte. Er hatte es gewusst. Ein Teil von ihm hatte es gewusst, seit dem Morgen, an dem sie an die Tür gekommen war, um ihnen von Hope zu erzählen. »Weil du die einfachere Zielscheibe warst.«
»Er hat schon eine ganze Weile nicht mehr auf mich zielen können. Dafür habe ich gesorgt.«
»Warum gibst du dir eigentlich die Schuld?«
»Das tue ich gar nicht.« Tory schloss die Augen, weil Cade sie weiterhin unverwandt ansah. »Ich weiß, dass er seine Wut an ihr ausgelassen hat, nachdem ich weg war. Ich habe nie versucht, daran etwas zu ändern. Natürlich hätte das auch keiner von beiden zugelassen, aber ich habe es eben auch nie versucht. Seit ich achtzehn war, habe ich ihn nur noch zweimal gesehen. Einmal, als ich in New York lebte und glücklich war, da hatte ich das Gefühl, wir könnten uns wieder näher kommen, zumindest ein wenig. Meine Eltern lebten damals in einem Wohnwagen in der Nähe der Grenze zu Georgia. Nachdem wir Progress verlassen hatten, sind sie ziemlich oft umgezogen.«
Still saß Tory da, mit geschlossenen Augen, während der Regen aufs Dach trommelte. »Daddy hielt es in keinem Job lange aus. Irgendjemand hatte immer etwas gegen ihn, wie er behauptete. Oder woanders winkte eine bessere Stelle. Ich weiß nicht mehr, an wie vielen verschiedenen Orten wir gelebt haben - andere Schulen, andere Wohnungen, andere Gesichter. Ich habe nie wirkliche Freundschaften geschlossen, also spielte es auch keine Rolle. Ich wartete nur sehnsüchtig darauf, erwachsen zu werden. Heimlich sparte ich Geld und wartete darauf, dass ich nach dem Gesetz zu Hause ausziehen konnte. Wäre ich vorher gegangen, hätte er mich zurückgeholt, und er hätte es mich büßen lassen.«
»Hättest du nicht jemanden um Hilfe bitten können? Deine Großmutter zum Beispiel?«
»Er hätte ihr wehgetan.« Tory öffnete die Augen und sah Cade an. »Er hatte Angst vor ihr, genauso wie vor mir, und er hätte ihr etwas angetan. Und meine Mutter hätte sich auf seine Seite gestellt. Das hat sie immer getan. Deshalb habe ich ihr auch nicht Bescheid gesagt, als ich ging. Wenn er es erfahren hätte, hätte er sich im Recht geglaubt. Ich kann dir nicht erklären, wie
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