Lilien im Sommerwind
sehr eine Angst dich beherrschen kann. Wie sie deine Gedanken und dein Handeln diktiert, und wie sie dir vorschreibt, was du sagst und was du nicht zu sagen wagst.«
»Du bist einfach gegangen.«
Tory öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder, bevor ihr etwas entschlüpfte, was sie lieber nicht sagen wollte. »Möchtest du noch Tee?«
»Setz dich wieder. Ich mache mir schon welchen.« Cade setzte den Kessel noch einmal auf. »Erzähl mir den Rest.«
»Ich sagte ihnen also nicht, dass ich von zu Hause weggehen würde, aber im Stillen plante ich jeden einzelnen Schritt. Ich packte, lief mitten in der Nacht davon, ging in die Stadt zum Busbahnhof und kaufte mir ein Ticket nach New York. Als die Sonne aufging, war ich schon meilenweit weg, und ich hatte nicht die Absicht, jemals wieder zurückzukommen. Aber ...«
Tory löste ihre ineinander verschränkten Finger, dann legte sie sie wieder zusammen, als ob sie beten wollte. »In jener Zeit damals habe ich sie besucht«, sagte sie vorsichtig. »Ich war gerade zwanzig geworden und seit zwei Jahren von zu Hause weg. Ich hatte einen Job und arbeitete in einem Kaufhaus in der Innenstadt. Ein Kaufhaus mit schönen Dingen. Ich bekam ein gutes Gehalt und ich hatte eine eigene Wohnung. Sie war zwar nicht viel größer als eine Abstellkammer, aber sie gehörte mir. Als ich Urlaub hatte, fuhr ich mit dem Bus bis an die Grenze von Georgia, um sie zu besuchen, nun, vielleicht auch, um ihnen zu zeigen, dass ich es allein zu etwas gebracht hatte. Zwei Jahre lagen dazwischen - doch innerhalb von zwei Minuten war es so, als sei ich nie weg gewesen.«
Cade nickte. Er war zum College gegangen, und in diesen vier Jahren war er zum Mann geworden. Aber als er nach Hause zurückkehrte, war der Rhythmus wieder genau der gleiche.
Aber für ihn war es der richtige Rhythmus gewesen, und er hatte sich die ganze Zeit über heftig danach gesehnt.
»Nichts, was ich tat, getan hatte, tun konnte, war richtig«, fuhr sie fort. »Man brauchte sich ja nur anzusehen, wie ich mich aufgedonnert hatte. Er wusste, wie das Leben da oben im Norden war. Und ich war wahrscheinlich nur nach Hause gekommen, weil ich von einem der Männer, von denen ich mich umschwirren ließ, schwanger geworden war. Ich war zwar immer noch Jungfrau, aber für ihn war ich eine Nutte. In den zwei Jahren hatte ich jedoch mehr Rückgrat bekommen und ich widersprach ihm. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich es wagte, ihm zu widersprechen. Den Rest meiner Urlaubswoche wartete ich darauf, dass die blauen Flecken in meinem Gesicht so weit abgeheilt waren, dass ich sie mit Make-up verdecken und wieder zur Arbeit gehen konnte.«
»Du meine Güte, Tory!«
»Er hat mich nur einmal geschlagen. Aber, bei Gott, er hatte große Hände. Große, harte Hände und er ballte sie gern zur Faust.« Geistesabwesend hob sie die Hand an ihr Gesicht und betastete ihre leicht gekrümmte Nase. »Mit einem Schlag hat er mich gegen die Theke in dieser schäbigen kleinen Küche geschleudert. Ich habe gar nicht gemerkt, dass meine Nase gebrochen war. Der Schmerz war so vertraut, weißt du.«
Unter dem Tisch ballte Cade seine Hände zu Fäusten, eine nutzlose Geste, und viel zu spät.
»Als er abermals auf mich losgehen wollte, nahm ich das Messer aus der Spüle. Ein großes Küchenmesser mit schwarzem Griff. Ich habe es gar nicht bewusst gemacht«, sagte Tory nachdenklich. »Auf einmal lag es in meiner Hand. Er muss mir angesehen haben, dass ich es auch benutzen würde. Dass ich es nur zu gern benutzen würde. Er stürmte aus dem Wohnwagen und meine Mutter rannte ihm nach und flehte ihn an, nicht zu gehen. Er wehrte sie ab, warf sie einfach zu Boden, aber sie rief ihm immer noch nach. Auf Händen und Füßen ist sie ihm nachgekrochen. Das werde ich nie vergessen. Nie.«
Cade trat an den Herd und nahm den Kessel mit dem kochenden Wasser herunter. Schweigend gab er Tee in die Kanne und goss das heiße Wasser darüber. Dann setzte er sich wieder und wartete.
»Du kannst gut zuhören.«
»Erzähl zu Ende. Werd die Geschichte endlich los.«
»Gut.« Ruhig öffnete Tory die Augen. Wenn sie in seinem Blick Mitleid gesehen hätte, hätte sie nicht weiterreden können. Aber sie sah nur Geduld.
»Ich hatte Mitleid mit ihr. Ich verabscheute sie. Und ich hasste sie. Ich glaube, in diesem Augenblick habe ich sie sogar mehr gehasst als ihn. Ich legte das Messer weg und ergriff meine Tasche. Als ich herauskam, saß Mutter immer noch im Staub und
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