Lilienblut
ihr hattet ja schon einen Namen. Aber daraus wird jetzt eben Kreutzfelders Bester. Zum Wohl!«
Sabrina starrte ihn an und verstand kein einziges Wort. Lukas war nicht nur der ganze Auftritt seines Vaters, sondern wohl auch diese letzte Eröffnung ziemlich peinlich.
»Dobersteins Jüngster wird Kreutzfelders Bester?« Sie wandte sich an Lukas, aber der wich seinem Blick aus.
»Und du hast mich überzeugt? Wann denn? Und womit denn?«
»Bitte, das hört sich jetzt alles ganz anders an, als es war. Ich wollte euch helfen. Die Bahntrasse, das alles hätte euch doch nur das Genick gebrochen.«
»Die Bahntrasse«, kicherte sein Vater. »Die Bahntrasse.«
»Dann war das Gerücht also wirklich nur ein Gerücht? Und dein Vater hat dich auf mich angesetzt? Ist das so?«
»Nein! Ich mag dich, Sabrina, wirklich. Das weißt du doch …«
Er wollte mit seiner Hand über ihr Gesicht streichen, aber sie schob sie weg. Das war ja wohl das Allerletzte, was sie hier auf der Treppe serviert bekam. »Meine Mutter hat den Berg verkauft.« Wie betäubt stand sie da. Noch vor gar nicht langer Zeit hätte sie gejubelt. Aber nun fühlte sie sich gleich von zwei Seiten hintergangen. Franziska hätte ihr sagen sollen, was sie vorhatte. Und Lukas ebenfalls.
»Sabrina …«
Lukas stellte sich ihr in den Weg, aber schon war sie rechts an ihm vorbei und in einer Gruppe lachender Menschen auf dem Weg nach draußen untergetaucht. Sie hatte Tränen in den Augen und wäre fast gestürzt. Ihre Hand fand das Geländer an der Wand. Sie hielt sich fest.
»Sabrina!«
Wie von Furien gehetzt rannte sie los und mischte sich unter die Menge, die sich langsam zu den Kais in Bewegung setzte. Erste Raketen schossen hoch und breiteten am dunklen Nachthimmel einen Mantel aus funkelnden Lichtkaskaden aus. Ahs und Ohs ertönten von überall her. Einige hatten Wunderkerzen dabei. Sie funkelten und strahlten mit den Gesichtern ringsherum um die Wette. Sabrina stolperte weiter und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alle lachten, alle waren fröhlich. In dem Lärm um sie herum fühlte sie sich wie eine Ertrinkende. Der Berg war weg. Und Lukas hatte sie verraten und belogen. Kilian würde nie mehr wiederkommen. Sie fühlte sich unter den vielen Menschen so allein wie nie zuvor.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. In den schlimmsten Momenten des Lebens war man immer allein. Da half kein Tagebuch und keine Freundin. Das Einzige, womit man gegen einen ausgewachsenen Blues auftrumpfen konnte, war das eigene Selbstbewusstsein. Das hatte zwar in den letzten Monaten gehörig gelitten, aber es war höchste Zeit, einen Neuanfang zu wagen. Wann, wenn nicht in einer Nacht wie dieser?
Sie sah sich um. Beate war nirgendwo zu entdecken. Wahrscheinlich war sie mit den anderen am Rhein. Ausflugsschiffe zogen langsam und majestätisch vorüber. Mit ihrer Festbeleuchtung sahen sie aus wie Ozeanliner. Auf einem von ihnen tanzte ihre Mutter jetzt gerade ins neue Jahr. Sie sah, dass die Siegfriedstatue schon von einem guten Dutzend Kletterer erklommen worden war. Unten, auf dem Sockel, flackerten die Flammen von kleineren Feuern. Der Richter würde morgen jedenfalls eine Menge Stoff zum Aufregen haben, so viel stand jetzt schon einmal fest.
Jemand rannte an ihr vorbei und schubste sie dabei unabsichtlich.
»Sorry!«
Der Junge drehte sich flüchtig um. Im Halbschatten sah sie sein Gesicht. Es kam ihr bekannt vor, und sie hatte schon fast die Hand gehoben, um ihn zu grüßen, als ihr einfiel, dass sie nicht wusste, woher sie den kennen sollte. Wieder sah sie sich suchend um. Keine Beate.
Sie fröstelte. Alle um sie herum hatten jemanden dabei, dem sie in wenigen Minuten ein frohes neues Jahr wünschen konnten. Kein Selbstmitleid, dachte sie. Bloß nicht wieder damit anfangen. Das hättest du alles haben können, wenn du deinen Mund gehalten und brav gemacht hättest, was der wunderbare Lukas von dir erwartet hat. Du willst aber keinen wunderbaren Lukas. Du willst …
Verdammt! Sie stieß ein paar Kiesel mit der Stiefelspitze weg. Du willst jemanden, der eine andere wollte und den die Sehnsucht zerfrisst und der dich nie, nie wiedersehen will.
Tolle Voraussetzungen für ein glückliches neues Jahr. Wieder wurde sie gestoßen, zwei weitere junge Männer keilten sich durch die Menge, ohne nach links und rechts zu sehen. Wütend drehte sie sich nach ihnen um. Doch der freche Spruch, den sie schon auf den Lippen hatte, blieb ungesagt. Auch diese beiden kannte sie. Woher
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