Lilienblut
Namen ausradiert und seinen eigenen hineingeschrieben hatte.
Entnervt warf sie die Lupe auf den Schreibtisch. Das konnte alles und nichts bedeuten. Jemand war krank geworden. Schraudt hatte sich verschrieben (aber verschrieb man sich bei seinem eigenen Namen?), oder sie hatten die Schicht gewechselt. Höppner. Niendorf. Saletzky.
Und wenn einer von den dreien derjenige war, der in dieser Woche Dienst gehabt hatte, und der Ranger im Nachhinein den Eintrag korrigiert hatte? Warum sollte er das tun?
Sabrina stand auf und ging ans Fenster. Leutesdorf lag in tiefer Dunkelheit und stillem Frieden. Von weit her hörte sie das Rauschen des Verkehrs auf der B9. Die Scheinwerfer der Autos sahen aus wie Glühwürmchen, die paarweise nebeneinander ihren Weg über die hohe Straße auf ihren schlanken Betonstelzen hinunterkrochen. Direkt darunter war Amelie gestorben. Plötzlich musste Sabrina an den schwarzen Schatten und sein irres Kichern denken.
Ich will nicht, dass sie hier auf der Werth herumstromert.
Hatte Schraudt sie gesehen? Hatte er geahnt, dass sie in der Nähe war? Er konnte ihr nicht gefolgt sein, aber vielleicht wusste er, dass die Werth mehr Geheimnisse verbarg, als er zugeben wollte.
Unten klingelte das Telefon. Sie hörte, wie Franziska an den Apparat ging, ein paar Worte sprach und dann an den Fuß der Treppe kam.
»Sabrina! Lukas will dich sprechen.«
Hastig versteckte sie den Zettel in ihrer Schreibtischschublade. Dann lief sie hinunter und nahm den Hörer entgegen, den ihr ihre Mutter mit einem rätselhaften Lächeln reichte.
»Ja?«
»Hi, ich bin’s. Du hast mich doch nach den Nutzungsplänen vom Rosenberg gefragt.«
»Äh … hm ja.« Sabrina warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter die Stereoanlage leiser gestellt hatte und so
tat, als würde sie in einer zwei Jahre alten Ausgabe von In vino veritas blättern.
»Kannst du reden?«
»Nicht so richtig.«
»Also, ich habe da was rausgefunden. Und ich würde das auch ungern am Telefon besprechen. Wollen wir uns treffen?«
»Ja, okay. Wann denn?«
»Hast du Freitagnachmittag Zeit?«
Sabrina ließ den Hörer sinken. Ihre Mutter sah hoch. »Lukas fragt, ob wir uns Freitagnachmittag treffen könnten. Es wird nicht lange dauern. Meinst du, ich kann mal für zwei Stunden weg?«
Franziska nickte. »Aber selbstverständlich. Sag ihm, er soll seinen Vater grüßen.«
»Ich soll dir sagen, du sollst deinen Vater grüßen.«
Sie hörte, wie er ausatmete. Er machte das sehr nahe am Mikrofon, sodass es klang wie ein prustendes Schnauben. »Mal sehen, ob deine Mutter das auch noch will, wenn sie es weiß. Wir treffen uns am Markt. So gegen drei, wäre dir das recht?«
»Klar.« Sie legte auf.
Franziska verlor schlagartig das Interesse an ausgelesenen Zeitschriften. »Und? Macht ihr was Schönes?«
Sabrina zuckte mit den Schultern. »Mal sehen. Wir wollen nur mal kurz miteinander reden.«
»Kein Problem.«
Sobald ein Kreutzfelder auftauchte, war es offenbar »kein Problem«, mitten in der Lese für zwei Stunden zu verschwinden. Sabrina holte sich noch eine Flasche Mineralwasser aus der Küche und ging wieder nach oben in ihr Zimmer. Lukas hatte also etwas über den Rosenberg herausgefunden, das ihrer Mutter keine Freude bereiten würde. Seinem Vater wohl auch nicht, sonst hätte er nicht so verschwörerisch am Telefon geklungen. Sabrina hoffte inständig, dass es nichts allzu Schlimmes sein würde. Lukas kannte Gott und die Welt. Wenn jemand etwas herausfinden würde, dann er.
Was Amelie wohl dazu sagen würde, dass sie sich jetzt schon zum zweiten Mal mit Lukas traf? Das Bedürfnis, mit ihrer Freundin zu reden, wurde beinahe übermächtig. Wenn du mir doch nur ein Zeichen geben würdest, dachte Sabrina. Irgendetwas, damit ich weiß, dass es richtig ist, was ich hier tue. Ich spioniere dem Ranger nach, ich will wissen, was vor acht Jahren am toten Fluss passiert ist, und ich treffe mich mit deinem Ex. Alles Dinge, für die ich wenigstens ein bisschen Unterstützung gebrauchen könnte. Sag doch was! Amelie!
Und plötzlich hatte sie eine Idee.
Neben ihrem Bett stand der alte Nachttisch aus Eichenholz, den Sabrina bei der Aufteilung des elterlichen Schlafzimmers von ihrem Vater geerbt hatte. In seiner Schublade lag Amelies Tagebuch. Sabrina hatte es dort hineingelegt und nie wieder angerührt. Es erinnerte sie an die schwärzesten Stunden ihres Lebens. Noch nicht einmal der Moment, in dem ihre Eltern zum ersten Mal das Wort »Scheidung«
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