Lilienblut
ist nicht zu Hause, meine Mutter auch nicht. Willst du eine Nachhilfestunde in Heimatgeschichte?« Sie grinste und machte die Tür frei. »Komm rein.«
Etwas befangen trat Sabrina ein.
Beate schien die Abfuhr auf dem Schulhof vergessen zu haben. Sie lief unbefangen voraus und plapperte dabei fröhlich über die Schulter. »Wir wohnen hier schon in der vierten Generation. Bewahren, bewahren, bewahren. Na, du kennst das ja. Das ist übrigens Kunibert.« In der Ecke stand eine ziemlich echt aussehende Ritterrüstung. Beate blieb daneben stehen. »Eigentlich soll sie ja dem Ritter Gramann von Nickenich
gehört haben. Ziemlich kleine Kerle waren das damals, nicht?«
Obwohl Sabrina nur mittelgroß war, überragte sie den Helm der Rüstung fast um Haupteslänge. Die Eingangshalle, in der sie sich befanden, war mit dunklem Holz getäfelt. An den Wänden verbreiteten Gemälde von missmutig dreinblickenden Ahnherren das Gefühl, ständig beobachtet zu werden.
Beate ging auf die Treppe zu. »Komm. Mein Großvater wohnt im zweiten Stock.«
Oben angekommen, ging Beate die Galerie entlang. Ein gewaltiger Kronleuchter aus Bronze hing von der Kassettendecke. Eine Mischung aus Ritterburg und Fantasialand, schoss es Sabrina durch den Kopf.
Beate klopfte an eine schwere Eichentür, und als niemand antwortete, machte sie sie einfach auf. »Hineinspaziert.«
»Ich kann da doch nicht einfach so reingehen!«
Statt einer Antwort rief Beate: »Opi? Besuch für dich!«
»Hier!«, dröhnte eine das Deklamieren gewohnte Stimme. »In der Bibliothek!«
»Geh einfach durch«, sagte Beate und wandte sich zum Gehen. »Wenn du magst, dann komm doch noch kurz bei mir vorbei. Erster Stock, rechts, ganz hinten. Tschüss!« Ohne eine Antwort abzuwarten, hüpfte Beate schon wieder die Treppen hinunter.
»Rein oder raus?«, rief der Richter.
Sabrina zog die Tür hinter sich ins Schloss und lief über einen dicken Teppich zu dem Raum, aus dem sie die Stimme gehört hatte. Die Bibliothek war im Gegensatz zum Treppenhaus ein ziemlich helles Zimmer. Große Sprossenfenster gaben den Blick frei auf die Stadt, die sich an den auslaufenden Hügel des Hahnenberges schmiegte und bis hinunter zum Rhein erstreckte. Die Regale waren aus hellem Holz, und oben auf einer Leiter, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, über das er mit merkwürdig abwesendem Blick gebeugt war, stand der Richter.
»Guten Tag«, sagte Sabrina.
Beates Großvater war ein großer, hagerer Mann mit einer ausgesprochen gesunden Gesichtsfarbe. Man sah ihm an, dass er sich oft im Freien aufhielt. Er klappte das Buch zu, stellte es wieder an seinen Platz zurück und kletterte dann mit schnellen, geschmeidigen Bewegungen hinunter.
»Mein Name ist Sabrina Doberstein.«
»Gramann«, sagte der Richter knapp und reichte ihr die ausgestreckte Hand. »Was führt dich zu mir?«
Der Blick aus seinen trüben Augen verriet ein nur mäßiges Interesse. Vermutlich hatte sie ihn bei einer ungemein spannenden Lektüre über die keltische Besiedelung des Mittelrheins gestört.
»Ich brauche Ihren Rat. Oder besser gesagt, Ihre Hilfe. Sie wissen doch alles über Andernach. Über das, was hier passiert ist, meine ich.«
»Naja, alles ist ein wenig übertrieben.«
Aha, der Richter mochte Schmeicheleien. Sabrina merkte sich das, als sie fortfuhr. »Wenn ich also etwas wissen möchte über die jüngste Vergangenheit der Stadt, dann könnte ich mir niemand anderen vorstellen.«
»Soso. Wollen wir uns nicht setzen?«
Er wies auf zwei hübsche, niedrige Sessel in der linken Ecke neben dem Fenster. Sabrina nickte und folgte ihm.
Als sie sich hingesetzt hatten, legte er die Fingerspitzen aufeinander und neigte den Kopf. »Was interessiert dich denn? Die Siedlungsgeschichte Andernachs umfasst immerhin die letzten 500.000 Jahre. In Miesenheim wurden Steinwerkzeuge aus dem Altpaläolithikum gefunden. Bei der jüngeren Vergangenheit würde ich dann eher auf die Eiszeit tippen. Oder die Römer.«
»Äh, noch jünger«, sagte Sabrina. »Viel jünger. Genauer gesagt, ich möchte etwas über den Mord am toten Fluss erfahren. Den, der dem Seitenarm seinen Namen gegeben hat. Das war vor gut acht Jahren.«
Der Richter kniff die Augen zusammen. Er musterte sie, ohne ein Wort zu sagen. Erst als Sabrina den Mund aufmachte,
um ihren letzten Satz zu wiederholen, schnitt er ihr mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. »Warum?«
»Weil … es mich interessiert.«
»Das ist keine Antwort. Warum interessiert es
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