Lilienblut
erwähnt hatten, kam da heran.
Langsam zog sie die Schublade auf. Das Einhorn glitzerte geheimnisvoll im Halbdunkel. Sabrina erkannte Amelies Kinderschrift und Tränen traten ihr in die Augen. Vorsichtig holte sie das Buch heraus und hielt es eine ganze Weile unentschlossen in den Händen. Jeder Mensch hatte ein Recht darauf, dass man seine Geheimnisse respektierte. Erst recht nach seinem Tod. Aber das hier war das Einzige, was sie jetzt noch mit Amelie verbinden konnte. Wieder wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Tag, an dem sie das Buch entdeckt hatte. Ihre Albernheiten und das Gekicher, als sie sich aus den nassen Klamotten gewunden hatten. Das hibiscusrote T-Shirt. Die Begegnung mit Kilian. Amelies Lachen und dieser weiche Glanz in ihrem Blick, wenn sie an den geheimnisvollen Schiffer gedacht hatte …
Sabrina berührte das Einhorn mit den Fingerspitzen. Eine Träne fiel herab, genau auf die erhobenen Vorderhufe. Einen Satz, dachte Sabrina. Gib mir einen Satz.
Sie schloss die Augen, blätterte ziellos in den Seiten, schlug
schließlich eine auf, fuhr mit dem Zeigefinger darüber und ließ ihn willkürlich an einer Stelle liegen. Sie öffnete die Augen und las.
… dann muss man es suchen. Nichts wird mehr so sein wie vorher, doch alles ist besser, als einfach stehen zu bleiben.
Sabrina klappte das Buch zu und verstaute es wieder in der Schublade. Plötzlich war es ihr, als hätte sie jemand getröstet und ihr den richtigen Weg gewiesen. Ich werde suchen, auch wenn dann nichts mehr so sein wird, wie es war.
Danke, Amelie, dachte sie. Genau das werde ich tun.
VIERZEHN
Zwei Tage später stand Sabrina vor einem hölzernen Gartentor. Hübsche Villen schmiegten sich an den Fuß des Andernacher Hahnenbergs. Hier hatten einst die Bimsbarone ihre Häuser gebaut und nach und nach war eine Wohngegend von diskretem Wohlstand entstanden. Weit weg vom Waldviertel, weit weg von Kneipen wie der »Sonne«, weit weg auch, so schien es, von allem, was Ärger oder Sorgen verursachte. Als Sabrina den Finger auf den Klingelknopf aus Messing legte, wusste sie, dass sie all das wie in einem unsichtbaren Rucksack mit in das hübsche Haus schleppen würde, das, von Efeu überwuchert, hinter herbstlichen Bäumen verschwand wie ein kleines Dornröschenschloss.
»Ja bitte?«
Die Stimme klang hell und jung. Wahrscheinlich eine Hausangestellte.
»Mein Name ist Sabrina Doberstein. Ich möchte zum Richter.«
Richter Gramann war eine Andernacher Institution. Obwohl seit Jahren im Ruhestand, war er aus dem Andernacher Stadtleben nicht wegzudenken. Das lag daran, dass er Zeit seines Lebens eine Respekt einflößende Gestalt gewesen war. Darüber hinaus hatte er aber nach seiner Pensionierung ein neues Hobby entdeckt: Stadtführungen. Wann immer erschöpfte Touristen mit abwesendem Blick in Gruppen über den Marktplatz taumelten, war der Richter nicht weit. Er lockte seine Opfer mit mildem Lächeln und dem Versprechen, in einer Stunde alles Wissenswerte über Andernach erfahren zu haben. Nach zwei Stunden ahnten sie, dass die Sache sich ziehen würde. Nach drei Stunden gab es erste Flüchtende, die der Richter aber spätestens an der nächsten Häuserecke wohlwollend wieder einfing.
»Sie haben sich wohl verlaufen?«, fragte er dann.
Da war das milde Lächeln zwar immer noch da, aber keiner glaubte ihm mehr, wenn er versicherte, in einer Viertelstunde wären alle wohlbehalten bei Luigi und könnten sich von Turmbesteigungen, Kirchenbesichtigungen und Rheinwanderwegen erholen. Der Richter wusste alles über Andernach. Und er nahm wenig Rücksicht darauf, ob seine Schäfchen auch alles wissen wollten. Da er die Führungen ehrenamtlich übernommen hatte und sich niemand fand, der ihm in Bezug auf Stadtgeschichte und hübsche Anekdoten das Wasser reichen konnte, ließ man ihn gewähren. Stadtführungen machten Touristen sowieso nur ein Mal. Und es sollte keiner sagen, sie hätten nicht ordentlich etwas für ihr Geld bekommen.
»Sabrina?«
Die Stimme aus der Gegensprechanlage klang überrascht. Ein leises Summen ertönte und die Pforte sprang auf. Noch bevor Sabrina sich fragen konnte, woher man sie hier am Krahnenberg kannte, öffnete sich die Tür zum Wohnhaus, und auf den obersten Stufen erschien – Beate.
»Hi! Was machst du denn hier?«
Überrascht blieb Sabrina stehen. »Ich wollte eigentlich zum Richter. Aber wahrscheinlich habe ich mich in der Klingel geirrt.«
»Nein, da bist du richtig. Das ist mein Großvater. Mein Dad
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