Lilienblut
prasselte auf ihr Gesicht, verfing sich in ihren Haaren, raubte ihr die Sicht. Voller Ekel klappte sie den Deckel mit einem Knall wieder zu. Sie rannte in die Küche und übergab sich auf einen Stapel verkrusteter
Teller. Überall flogen sie herum und breiteten sich in der ganzen Wohnung aus. Sabrina stürzte zum Fenster, riss es auf und holte tief Luft. Dann ging sie entschlossen zurück in den Flur, warf die Kleider von der Truhe und öffnete den Deckel ein zweites Mal.
Dicke, fette, weiße Maden ringelten sich durcheinander. Der Anblick hätte gereicht, sofort noch einmal zur Spüle zu stürzen. Doch die Maden waren in einer Schachtel, von der sich der Deckel gelöst hatte, als sie jemand hier hineingeworfen hatte. Sabrina verscheuchte ein paar Fliegen, die als Nachzügler gerade die Freiheit entdeckten. Das war offenbar die Kiste mit den Ködern. Und anstatt dass sie verfüttert worden wären, waren sie hier vergessen worden und hatten sich quasi selbstständig gemacht.
Vorsichtig klappte sie den schweren Deckel wieder zu. In diesem Moment rutschte etwas an der Wand hinter der Truhe entlang und fiel zu Boden. Es musste dahinter eingeklemmt gewesen sein und hatte sich durch die Erschütterung gelöst. Mit aller Kraft gelang es Sabrina, das schwere Möbelstück ein paar Zentimeter vorzuziehen. Ihre Hand fuhr in den schmalen Spalt. Sie ertastete etwas Weiches, Undefinierbares, das nur alte Socken sein konnten. Sie suchte weiter, bis ein brennender Schmerz ihren Arm hochjagte. Blitzschnell zog sie ihn zurück und erkannte Blut an der Kuppe ihres Mittelfingers. Ärgerlich steckte sie ihn in den Mund und zerrte mit der unversehrten Hand die Truhe noch ein Stück weit von der Wand weg. Wieder klirrte es. Sie spähte in den Spalt, dann zog sie den Gegenstand vorsichtig heraus. Es war ein billiger, rahmenloser Bildhalter im Din-A-5-Format. Ein Foto war hinter dem zersprungenen Glas eingeklemmt. Noch im Halbdunkel des Flurs erkannte sie, wer es war. Die junge Frau trug einen Bikini, lag auf ihrer Decke und blätterte in einer Zeitschrift.
Sabrina hatte plötzlich wieder alles vor Augen, jedes Detail, obwohl die Aufnahme unscharf und wohl mit einem älteren Handy gemacht worden war. Sie wusste sogar, welchen Artikel
Amelie gerade las, denn es war ein Schnappschuss von Krippe 8, aufgenommen an Sabrinas Geburtstag, kurz bevor sie sich getroffen hatten.
Wer zum Teufel hatte dieses Foto geschossen? Ihre Gedanken flogen zurück zu jenem verhängnisvollen Tag. Sie versuchte, sich an die Leute zu erinnern, die zur gleichen Zeit dort gewesen waren, aber ihr war niemand aufgefallen. Jeder hätte dieses Foto machen können. Aber das erklärte immer noch nicht, wie es in Bertis Hände gelangt war.
Ihr Blick fiel auf die Angeln in dem Ständer. Platz war für vier, aber nur drei Ruten waren da. Das musste nichts heißen. Aber sie konnte nirgendwo Gummistiefel entdecken. Berti war also ohne Köder zum Angeln gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Zu Willy und Wanda konnte sie nicht gehen – wie hätte sie die Sache mit den Schlüsseln erklären sollen, ohne Wanda zu verraten? Das Foto konnte sie ihnen erst recht nicht zeigen. Ihr fiel nur ein Mensch ein, der in dieser Situation einen klaren Kopf behalten würde.
ACHTZEHN
Luigis Eiscafé hatte geschlossen. Die Stühle standen in Stapeln an der Wand, die Kühltruhe war bereits ausgeräumt. Früher waren um diese Jahreszeit immer die Pelzhändler gekommen. Seit einiger Zeit lohnte sich das nicht mehr. Die Leute schafften sich lieber einen neuen Flachbildschirm an. Pelze trugen nur noch ältere Damen, die ihre guten Stücke hegten und pflegten.
Mit einem Seufzer wandte sie sich ab. Auf der anderen Marktseite befand sich eine Reihe guter Restaurants. Sie war nicht zum Essen verabredet, aber als aus dem dunklen Himmel die ersten Tropfen fielen, suchte sie sich das aus, das am gemütlichsten wirkte, und schickte Lukas eine SMS. Er kam wenig später. Der Wind hatte seine blonden Haare zerzaust, noch im Gehen öffnete er den Mantel und warf seine Aktenmappe salopp auf den freien Stuhl neben Sabrina. Dann setzte er sich auf die andere Seite.
Wieder einmal fiel ihr auf, wie bieder er aussah. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er sie langsam, aber sicher ansteckte mit seiner Wohlanständigkeit. Mit Amelie hätte sie sich nie in so einem Laden verabredet. Oder sie hätten sich kichernd über die dicken, ledergebunden Speisekarten lustig gemacht und die Reproduktionen alter
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