Lilientraeume
Wie hättest du meine Gefühle nachvollziehen können? Das kann niemand, der nicht die Erfahrung machen musste, unerwünscht zu sein. Trotz meines großartigen Vaters hatte ich dieses Gefühl oft. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich um deine Familie beneidet habe, selbst als meine Mutter noch zu Hause war, und wie sehr ich euch alle brauchte. Ihr wart immer für mich da, und deshalb seid ihr neben meinem Dad für mich die wichtigsten Personen auf der Welt.«
»Wir sind nach wie vor für dich da – wir alle und ich hoffentlich besonders.«
»Dafür bin ich euch unendlich dankbar. Aber es ist ebenfalls wichtig für mich, dass ich mir und allen anderen zeige, was in mir steckt. Dass ich was aus mir machen kann. Vielleicht hängt das mit meiner Verlusterfahrung zusammen. Mag sein, dass ich die Schuld für den Weggang meiner Mutter bei mir suchte und mir deshalb minderwertig und schlecht vorkam und mir jetzt ständig das Gegenteil beweisen muss.« Sie hob hilflos die Hände. »Weißt du, ich dachte damals schon ein wenig, sie sei meinetwegen weg und ich hätte ihre Liebe nicht verdient. Da konnte mein Dad sagen, was er wollte. Oder auch deine Eltern. Nichts vermochte mich wirklich zu überzeugen, dass es mit mir nichts zu tun hatte. Und das Gefühl, wertlos, schlecht oder einfach unwichtig zu sein, nagte noch sehr lange an mir.«
»Wir haben doch alle versucht, dir das auszureden.«
»Das schon, und irgendwann hab ich es auch begriffen. Trotzdem blieben die Schuldgefühle – ich weiß nicht, warum. Es war einfach so. Und später begann ich ganz einfach, dieses Unbehagen durch Ehrgeiz und Zielstrebigkeit zu kompensieren. Insofern hatte die Tatsache, dass sie uns verließ, langfristig sogar ihr Gutes.«
Owen schwieg, denn er spürte, dass sie noch mehr beschäftigte.
Nach kurzem Zögern begann sie erneut zu sprechen. »Das ist die eine Sache. Hinzu kommt, dass diese Geschichte mich manchmal oder häufig blockiert. Ich frag mich sogar, ob ich deshalb bisher nie eine längere Beziehung eingegangen bin. Und tiefere Gefühle aus der Furcht heraus, ich könnte scheitern wie meine Mutter, erst gar nicht zugelassen habe. Zwar stürze ich mich schnell in Abenteuer, halte aber im gleichen Moment bereits nach einer Rückzugsmöglichkeit Ausschau. Weil ich nicht so werden will wie meine Mutter. Und der Gedanke, dass ich es womöglich doch bin, macht mir schreckliche Angst.«
»So darfst du nicht denken.«
»Tu ich aber. Wie du siehst, hab ich mich auch von dir zurückgezogen.« Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Du hattest völlig recht – eigentlich hätte ich zu dir kommen sollen. Stattdessen zieh ich es vor, mich in mein Schneckenhaus zu verkriechen und dich zurückzuweisen.«
»Jetzt bin ich ja da, und du hast mir alles erzählt.«
»Aber nur, weil du mich praktisch dazu gezwungen hast. Freiwillig wäre ich kaum damit rausgerückt. Du bist ganz anders – stellst dich Problemen und gibst nicht auf, bis du sie gelöst hast.«
Er setzte sich wieder neben sie. »Und wie sieht in diesem Fall die Lösung aus?«
»Das musst du mir sagen.« Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. »Es tut mir leid. Ich hab dich verletzt und dir das Gefühl gegeben, du hättest dich falsch verhalten. Das hast du nicht. Du weißt, dass meine Mutter schon immer ein Problem für mich war. Vor allem die Frage, inwieweit ich ihr ähnlich bin. Das alles türmte sich in dem Moment, als sie vor mir stand, zu einem Riesenberg auf, und plötzlich betrachtete ich auch unsere Beziehung unter diesem Aspekt. Deshalb hab ich erst mal dicht gemacht, um mit mir selbst wieder ins Reine zu kommen. Ich hätte aber wissen müssen, dass mein Verhalten dich kränkt … Sogar meinem Vater konnte ich nicht davon erzählen. Bis heute Nachmittag nicht.«
Er nahm ihre Hand und schaute sie lächelnd an. »Und was hast du gekocht?«
»O Gott.« Sie blinzelte gegen die Tränen an. »Ich bin anscheinend echt berechenbar. Suppe. Die wollte ich meinem Dad bringen und bei der Gelegenheit mit ihm reden. Doch sie ist mir zuvorgekommen und saß bereits in der Küche.«
Er küsste sanft ihr Haar. »Das hat es bestimmt nicht einfacher für dich gemacht.«
»Ich war furchtbar wütend, weil sie es wagte, bei ihm aufzutauchen und alte Wunden aufzureißen. Sie saß da und heulte, hatte ihm offenbar dieselbe Geschichte aufgetischt wie mir. Wie leid ihr alles täte und wie sehr sie ihr Verhalten bedauere und so weiter. Vermutlich stimmt es sogar teilweise, weil sie inzwischen
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