Lilientraeume
aufsteigenden Tränen fort. »Hinzu kam, dass ich offenbar ein nerviges Baby war, das sie Tag und Nacht auf Trab gehalten hat. Sie habe einfach nicht mehr ein noch aus gewusst, sagte sie. Ich vermag nicht zu beurteilen, ob sie übertreibt, um sich zu rechtfertigen … Jedenfalls kam ein weiteres Kind für sie nicht infrage, und als ich drei war, ließ sie eine Abtreibung vornehmen und die Eileiter abbinden.«
Owen nahm ihre Hand. »Das zu hören war bestimmt nicht leicht für dich. Du hast dir schließlich immer Geschwister gewünscht.«
»Das Schlimmste an der Geschichte war, dass sie es heimlich machte ohne Wissen und Zustimmung meines Vaters. Er hat erst im Nachhinein davon erfahren. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste er nicht einmal, dass sie erneut schwanger gewesen war.« Sie schaute ihn aus tränennassen Augen an. »Wer tut so was? So geht man doch nicht mit seinem Ehepartner um. Meine Mutter meinte, sie habe es getan, weil er das nicht akzeptiert hätte. Ich finde, das ist keine Entschuldigung – sie hätte zumindest versuchen müssen. Ihm die Wahrheit zu verschweigen, das war Verrat.«
Schweigend stand er auf, holte eine Packung Kleenex aus dem Bad und drückte sie ihr in die Hand.
»Danke. Heulen hilft zwar nicht, aber irgendwie komm ich einfach nicht damit zurecht.«
»Manchmal können Tränen heilsam sein.«
»Sie erzählte noch, dass mein Dad völlig ausgerastet sei, als ihr während eines Streits die Abtreibungsgeschichte versehentlich rausrutschte. Aber nach wie vor wollte er keine Trennung, sondern es noch einmal mit einer Eheberatung probieren. Meinetwegen. Sie hingegen fühlte sich in dieser Ehe, in ihrem Haus, in der Stadt gefangen. Als würde das Leben an ihr vorbeilaufen. Deshalb ließ sie sich auf Affären ein – wer weiß, wie viele es tatsächlich waren. Jedenfalls wussten alle im Ort offenbar Bescheid.« Sie sah ihm ins Gesicht. »Du auch, gi b ’s zu. Obwohl du noch so jung warst.«
Er überlegte kurz, doch ihr Blick verriet, dass ihr die Wahrheit wichtig war. »Die meisten wussten es wohl.«
»Meine Mutter, das größte Flittchen der Stadt. So gesehen hatten wir es besser ohne sie.«
»Einfach war es sicher nicht«, erklärte er und küsste zärtlich ihre Hand.
»Mag sein, aber zumindest mussten Dad und ich nicht mehr mit ansehen, was sie so trieb. Allerdings ist sie bei dem Mann, für den sie uns verlassen hat, bis zu seinem Tod geblieben. Sein Name war Steve. Sie sagte, ihn habe sie wirklich geliebt, und ihre Trauer um ihn wirkte echt. Trotzdem konnte ich kein Mitgefühl für sie aufbringen.«
»Das musst du auch nicht unbedingt, denn du hast allen Grund, wütend und verletzt zu sein.«
»Ich wollte ihre Rechtfertigungen nicht akzeptieren und fand es zugleich schlimm, dass ich so hart zu ihr war. So unerbittlich und unversöhnlich. Zwischendurch war ich manchmal drauf und dran, mich etwas zurückzunehmen und es ihr zu glauben, dass alles ihr sehr leidtäte. Immer wieder beteuerte sie, wie stolz sie auf mich ist. Weil ich so hübsch und so erfolgreich obendrein sei. Und dann kam plötzlich raus, dass sie in der Klemme steckt, denn dieser Steve hat sie offenbar ohne einen Cent, dafür mit einem Haufen Schulden zurückgelassen. Sie brauchte Geld und wollte mich anpumpen – nur deshalb ist sie genau genommen aufgetaucht. Nicht aus später Reue.«
Er stand auf, trat ans Fenster und sah reglos in den immer dichter fallenden Schnee hinaus. Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, dass Eltern ihre Kinder auszunutzen versuchten. Avery musste sich erneut sehr verletzt gefühlt haben.
»Und wie hast du darauf reagiert?«
»Nun, ich hab ihr ein paar ziemlich hässliche Dinge an den Kopf geworfen. Daraufhin brach sie in Tränen aus und flehte mich richtiggehend an, ihr Geld zu geben und sie überdies bei mir wohnen zu lassen. Vorübergehend. Erst sprach sie von ein, zwei Wochen, zum Schluss bettelte sie wegen einer Nacht. Es hat mich einfach krank gemacht. Schließlich hab ich ihr alles Bargeld hingeworfen, das ich gerade in der Wohnung hatte, und gesagt, sie soll verschwinden.«
Er wandte sich ihr wieder zu. »Warum wolltest du mir nichts davon erzählen? Warum hast du geschwiegen, statt mich um Hilfe zu bitten?«
»Ich brachte es einfach nicht über mich, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Diese Begegnung hat mich völlig aus der Bahn geworfen.«
Er trat zu ihr und blieb direkt vor ihr stehen. »Bin ich bloß irgendjemand für dich? Ich hoffe nicht.«
»Nein. Nur:
Weitere Kostenlose Bücher