Lilith Parker
versucht hatte, Mildreds kleine Schwester Lou vor dem Ertrinken zu retten. Doch bei ihr selbst hatte sich so etwas noch nie eingestellt.
»Nein, aber wenn ich den Körper eines Verstorbenen berühre, kann ich irgendwie in dessen Bewusstsein schlüpfen und erlebe seine letzten Minuten vor dem Tod.«
»Das gehört zu den Grundfähigkeiten einer jeden Banshee und ist etwas, das sie intuitiv beherrscht«, bestätigte Imogen.
»Ist es möglich, dass man dabei auch in ein anderes Bewusstsein wechselt, das dem Verstorbenen nahe ist?«
Natürlich dachte sie bei ihrer Frage an den Moment, in dem sie geglaubt hatte, in das Bewusstsein ihrer Mutter geschlüpftzu sein. Noch immer hoffte sie, dass diese Vision hauptsächlich ihrer Fantasie entsprungen war. Denn wenn das, was sie dabei gesehen hatte, der Wirklichkeit entsprach, warf es zu viele komplizierte und rätselhafte Fragen auf: Wie konnte Lilith leben, wenn sie vor ihrer Geburt gestorben war? Was war danach zwischen Zebul und ihrer Mutter geschehen? Wie war es möglich, dass Cathy Stunden später schwer verletzt bei Tante Mildred aufgetaucht war und mit letzter Kraft ihre Tochter zur Welt gebracht hatte?
Imogen rieb sich nachdenklich über das Kinn. »Von so etwas habe ich noch nie gehört, und selbst wenn es möglich wäre, halte ich es für eine äuÃerst seltene Ausprägung. Doch nun solltest du erst einmal etwas über die grundlegenden Dinge erfahren, die deine Kräfte betreffen!«
Sie richtete sich auf, strich ihr Bansheekleid zurecht und begann im Tonfall einer Lehrerin zu dozieren: »Es gibt nur zwei Momente im Leben jedes Wesens, die in ihrer Intensität und Gefühlsgewalt seine Seele zum Erschüttern bringen: die Geburt und der Tod. Im Moment ihres Todes werden sie sehend, aus Unwissenden werden Wissende. Als Banshee bist du in der Lage, die letzten Momente vor dem Tod eines Wesens mitzuerleben, über Zeit und Raum hinweg. Diese Bilder und Träume, die dich momentan überwältigen, sind ein Zeichen deiner Unfähigkeit, dies bewusst zu steuern und abzurufen. Da ich von meiner Familie vor meinem dreizehnten Geburtstag in dem Wissen, das eine Banshee besitzen muss, unterrichtet worden bin, bin ich bereit, meine theoretischen Kenntnisse mit dir zu teilen. Bei der praktischen Umsetzung bist du jedoch aufdich allein gestellt.« Sie hielt inne. »Willst du nicht mitschreiben?«
»Muss ich denn?«, entfuhr es Lilith reflexartig.
Imogen kniff tadelnd die Lippen zusammen, stand auf und schob einen Vorhang beiseite, mit dem ein Teil des Zimmers abgetrennt war. Dahinter kamen ein Sekretär und eine kleine Anrichte zum Vorschein, offenbar handelte es sich dabei um Imogens privaten Arbeitsbereich. Die Anrichte quoll über vor alten Fotos und Erinnerungsstücken und Lilith hätte zu gern einen Blick darauf geworfen.
Imogen nahm Stift und Papier aus dem Sekretär und deponierte beides vor Lilith auf dem Tisch. Ergeben nahm sie den Stift zur Hand und rutschte auf die AuÃenkante des Sessels, wobei es ihr unsanft den Magen zusammendrückte. Sie fragte sich, ob es möglicherweise zu den Tricks eines Wahrsagers gehörte, die Kunden auf einem möglichst unbequemen Stuhl sitzen zu lassen. Es störte auf alle Fälle die Konzentration, sodass mit etwas Glück den Kunden die ungenauen Prognosen gar nicht mehr auffielen.
»Nehmen wir an, du bist in einer Stadt und ein Mann vor dir beschlieÃt, eine stark befahrene StraÃe zu überqueren. In dem Moment siehst du, wie sich das Todesmal über seinem Kopf bildet. Wie verhältst du dich?«
»Ich halte ihn natürlich zurück.«
»Aber vielleicht verursachst du erst durch dein Eingreifen seinen Tod? Du rufst ihn zurück, er bleibt mitten auf der Fahrbahn stehen und erst dadurch kommt es zum tödlichen Unfall. Lektion Nummer zwei: Der Tod gehört zum Leben dazu und du darfst in diesen Kreislauf nicht eingreifen!Abgesehen davon, dass du dich damit in das Werk höherer Mächte einmischst, kannst du dir auch nicht die Last aufbürden, jeden Menschen retten zu wollen.«
»Das ist doch eine saublöde Gabe«, murmelte Lilith. Sie wusste, dass Imogen recht hatte, trotzdem fühlte es sich so falsch an, von dem Todesmal zu wissen und nichts unternehmen zu dürfen.
»Der Tod ist nicht böse oder schlecht, er ist etwas ganz Natürliches. Du als Banshee solltest das besser
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