Lilith Parker
gar nicht mehr wahrnahm. Sie war in ihre Erinnerungen abgetaucht und betrachtete in ihrem Geist die Bilder der Vergangenheit. Es waren Bilder aus unbeschwerten Tagen, die man wie einen Schatz in seinem Herzen versteckt hielt und immer wieder ansehen konnte, ohne ihrer müde zu werden. Im Gegenteil, je mehr man sich ihnen hingab, umso mehr hauchte man ihnen wieder Leben ein â man spürte Berührungen, roch den Duft seines Gegenübers, fühlte die Freude, die einen durchströmt hatte wie ein goldener Sonnenstrahl. Imogen schien diese Bilder des Glücks jedoch so oft angesehen zu haben, dass die Gegenwart für sie kaum noch existierte.
Lilith räusperte sich. »Mein GroÃvater starb an Agrypnia, nicht wahr?«
Imogen fuhr aus ihren Gedanken hoch und stellte den Bilderrahmen zurück auf die Anrichte. »Eine Infektionskrankheit, die nur Nocturi befällt. Die Erkrankten können nicht mehr schlafen, nicht für eine Sekunde, obwohl sie müde und erschöpft sind. Kannst du dir die Qual vorstellen, wenn dein Körper und dein Verstand nicht mehr zur Ruhe kommen können? Irgendwann ist ihr Geist so zermürbt, dass sie unter Wahnvorstellungen und Paranoia leiden, sie kratzen sich die Haut blutig oder reiÃen sich die Haare aus. Ihr Körper wird immer ausgezehrter und schwächer, bis sie im letzten Stadium in eine komaähnliche Bewusstlosigkeit fallen. Die meisten Kranken sehnen diesen Momentherbei, selbst wenn dies das unausweichliche Ende bedeutet. Leider konnte ich im Moment seines Todes nicht bei deinem GroÃvater sein, da ich mit den anderen Nocturi am Schattenportal gegen die Dämonen kämpfte.« Sie fuhr sich verbittert über die Narbe an ihrer Wange.
Imogen bestätigte mit ihrer Erklärung, was Lilith seit ihrem Besuch auf der Burg befürchtet hatte: Ihre Visionen waren keine Trugbilder, die ihrer Fantasie entsprungen waren, sondern entsprachen der Wahrheit.
»Den Baron auf diese Weise dahinsiechen zu sehen, schmerzte mich so sehr, dass ich mich ihm als Opfer angeboten habe. Mit Freuden hätte ich mein nutzloses Leben gegeben, um das dieses bedeutenden Mannes zu retten. Doch er schlug mein Angebot aus.«
Irritiert wandte Lilith sich zu ihr um. »Er hätte sein Leben retten können, indem er sie tötet?«
»Auch du bist dazu in der Lage. Durch den Todeskuss nimmt eine Banshee die Lebensenergie ihrer Opfer in sich auf, dadurch verjüngen sie sich und leben länger. Deswegen werdet ihr auch Seelenvampire genannt.«
Lilith schielte auf das Foto ihres GroÃvaters. »Sah er deswegen noch so ungewöhnlich jung aus?«
Imogen runzelte die Stirn und hieb voller Inbrunst mit der Hand auf die Anrichte, sodass die Bilder ins Schwanken kamen. »Wie kannst du es wagen, deinem GroÃvater so etwas zu unterstellen? Er war ein Mann von Ehre und Anstand, niemals hätte er jemanden auf diese Weise umgebracht. Die Regeln und Gesetze des Rates waren heilig für ihn! In all den Jahren seit ihrer Entstehung konnte er sichrühmen, sie eingehalten zu haben. Er war ein Vorbild für sein Volk, eine Galionsfigur, er hat ihnen in den dunklen Stunden Kraft und Führung gegeben.«
Ihr Gesicht glühte vor Eifer und in ihren Augen lag ein fanatisches Funkeln. Zwar war Lilith in Bonesdale schon vielen Anhängern ihres GroÃvaters begegnet, doch Imogen Norwich übertraf sie offensichtlich alle.
»Entschuldigung«, murmelte sie.
Imogen atmete tief durch, nickte ihr als Zeichen der Akzeptanz wortlos zu und griff nach einem anderen Bilderrahmen. »Sieh mal, erkennst du hier jemanden?«
Auf dem Foto, das Imogen in Händen hielt, waren zwei Mädchen zu sehen, die einen riesigen Kürbis aushöhlten. Die ältere von ihnen mit den roten Locken war eindeutig Imogen, die jüngere hatte schwarzes langes Haar, leuchtend blaue Augen und ein freches Lächeln. Nun war es Lilith, die bewegt auf das Bild starrte und versuchte, ihre Gefühle im Zaum zu halten.
»Sie waren mit meiner Mutter befreundet, oder?«
»Ja, unsere Familien sind seit Jahrhunderten eng miteinander verbunden und so haben Cathy und ich uns schon in Kindertagen angefreundet. Doch ich will ehrlich sein: Später haben wir uns nicht mehr besonders gut verstanden. Es gab einige Dinge, in denen wir unterschiedlicher Meinung waren.«
Das konnte sich Lilith gut vorstellen. Für Imogen schien der Baron eine Art Heiliger zu sein, dessen
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