Liliths Kinder
Menschen. Vielleicht ist das in diesem Fall ein Nachteil...?
Lilith öffnete die Augen, hielt sie jedoch von der Barriere abgewandt. Wieder schweifte ihr Blick über die nachtdunkle Hermetische Stadt zu ihren Füßen. Die Verlockung, dorthin zurückzukehren, war groß. Die Versuchung indes, den Schritt in die Barriere und womöglich darüber hinaus zu tun, überwog. Noch .
Ohne hinzusehen, tastete Lilith hinter sich. Was würde geschehen, wenn nur ihre Finger die Wand berührten? Konnte der bloße Kontakt den wahnsinnigen Wirbel möglicherweise stoppen?
Lilith erfuhr, daß der seit Jahrhunderten wirkenden Magie so einfach nicht beizukommen war!
Eiseskälte biß in ihre Fingerspitzen, fraß sich wie mit unzähligen Mäulern über ihre Hand, den Arm hinauf, rasend schnell, bis zur Schulter. Und weiter, immer weiter! Bis Lilith sich ganz und gar wie einen Kokon gehüllt vorkam - in eine Schale aus stechender Kälte und purpurfarbenem Licht.
Zeit und Raum schienen ihr für den Moment ohne jede Bedeutung. Sie fühlte sich herausgelöst aus jeder Welt, leicht, schwerelos.
Dann meinte sie, etwas würde sie wegstoßen - mehr noch: regelrecht fortkatapultieren, mit urgewaltiger Kraft.
Licht und Kälte vergingen. Dunkelheit und laue Wärme lösten sie ab.
Das Gefühl zu schweben jedoch blieb. Für den Bruchteil einer Sekunde noch.
Dann langte die Schwerkraft wie mit unsichtbaren Fäusten nach Lilith, packte sie -- und riß sie in die Tiefe!
Rasend schnell stürzte Lilith durch den Schlund der Nacht. Fiel buchstäblich vom Himmel.
*
Ohne Schmerz kam der Tod über Copan. Der Schlag seines Herzens versiegte, als die Flüsse, die es ein Leben lang gespeist hatte, trocken lagen.
Das Sterben indes war eine ebenso lange wie qualvolle Prozedur gewesen.
Wie Dolche hatte er ihre Zähne in seinem Fleisch gespürt, als sie ihm das Leben buchstäblich aussogen - langsam, Stück um Stück. Die widerwärtigen Laute ihrer Gier, dieses Schmatzen und Schlürfen, hatten Copans Ohren gepeinigt, während die Wärme aus seinem Leib geflohen und Kälte in ihn geströmt war.
Jetzt, endlich, gerann der Glanz seiner Augen zum stumpfen Schimmer unpolierten Metalls, und der Tod konservierte das Grauen in Copans Zügen.
Die Vampire jedoch ließen noch nicht ab von dem Leichnam. Erst als sie ihm auch den letzten Tropfen schon erkaltenden Blutes aus den Adern gestohlen hatten, lösten sie die Lippen von der Haut des Toten, zogen sie ihre Zähne aus den Bißwunden, die sie ihm nicht nur am Hals, sondern auch in den Armbeugen und Kniekehlen beigebracht hatten.
»Ein feudales Mahl war das«, sagte Tumul, »im Vergleich zu dem, wovon wir uns in den vergangenen Tagen zu nähren hatten.«
Sein Ton aber war bitter, und sein Gesicht drückte tiefsten Ekel aus. Er wandte den Blick, weil er den Anblick des Toten nicht länger ertrug. Nicht etwa, weil er ihn bedauerte, sondern weil er den schalen Geschmack des alten Blutes so rasch als möglich zu vergessen trachtete.
»Was beklagst du dich? Niemand hat dich gezwungen, mit uns zu trinken! Ebensogut hättest du dich weiter mit den armseligen Rationen begnügen können, die Mutter uns zugesteht!«
Die Schärfe in Cuyos Stimme schüchterte Tumul ein. Jedoch die abfällige Betonung, mit der er das Wort Mutter ausgesprochen hatte, bewies ihm, daß sein Bruder nicht minder verbittert war. Wie sie, die Herrscher Mayabs, neuerdings zu leben gezwungen wurden, war - unwürdig. Erbärmlich!
»Meine Worte waren weder gegen dich, Cuyo, noch sonst jemanden hier gerichtet«, rechtfertigte sich Tumul.
Zu fünft hatten sie sich in diesem Gewölbe versammelt, das tief unter dem Palast verborgen lag. Tumul und Cuyo hatten den AIten draußen überfallen und dann unbemerkt hierher geschleift, wo sie von ihren Schwestern Oriente, Atitla und Peten schon erwartet worden waren.
Drei der ursprünglich acht Kelchkinder Mayabs fehlten.
Chiquel, den ihr Vater zum Krüppel gemacht hatte, wußte nichts von dem verbotenen Opfermahl, weil zu befürchten stand, daß er es an Lilith verraten hätte. Schließlich fühlte er sich als einziger wirklich jener Frau verpflichtet, die sie auf Landrus Befehl als ihre Mutter zu betrachten hatten.
Zapata war vor Tagen auf unerklärliche Weise ums Leben gekommen.
Und Pomona sonderte sich seither von ihren Geschwistern ab, um zu ergründen, wer oder was Zapata, der ihr mehr als nur ein Bruder gewesen war, getötet hatte.
Sie allesamt waren es leid, von den Priestern gesammeltes Blut aus
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