Liliths Kinder
das Signal ihres Unterbewußtseins!
Der Boden schien ihr fast schon zum Greifen nahe. Nur noch Sekunden, dann mußte sie ihn erreicht haben!
Der Gedanke hatte sie eine weitere wertvolle Sekunde gekostet. Lilith überließ sich dem Impuls. Ließ geschehen, was er bewirkte.
Sie erwartete den Schmerz, der mit der Mutation, der völligen Umformung ihres Körpers unweigerlich einhergehen mußte, und spürte - - nichts.
Gelang die Transformation nicht?
War der Sturz schon vorüber? War der Tod schneller gekommen, als ihr Bewußtsein ihn begreifen konnte? Verwirrung drohte Liliths Gedanken aus der Bahn zu bringen.
Ihre Wahrnehmung hatte sich verändert.
Sie sah immer noch - aber sie tat es auf eine Weise, die ihr fremd war und mit der sie kaum umzugehen wußte. Es war, als spüre sie die Konturen all dessen, was um sie her war, und als würden sich diese Eindrücke mit minimaler Verzögerung zu Bildern fügen, die direkt in ihren Kopf projiziert wurden.
Sekundenlang meinte Lilith, diese Art des Sehens müsse ihren Verstand für alle Zeit schädigen -
Sekundenlang?
Wie war das möglich? Mußte der Aufprall sie denn nicht längst zerschmettert haben .?
Aber - sie lebte! Auf ganze neue Weise!
Sie schwamm in der Nacht, ließ sich von Flügeln tragen - hatte sich verwandelt!
Euphorie überflutete Liliths Denken und ließ nicht zu, daß sie sich die Kontrolle ihrer geflügelten Gestalt bewußt machte. Weiter geschah jeder Schlag ihrer Schwingen instinktiv, und der schwarze Schatten, der sie war, taumelte wie trunken durch die Dunkelheit zwischen Himmel und Erde, einmal hoch hinauf, dann wieder wie im Sturzflug hinab.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe Lilith sich mit den Funktionen ihres zweiten Körpers vertraut gemacht hatte und ihn zu beherrschen in der Lage war. Dann aber fand sie regelrecht Gefallen daran, auf Flügeln über Mayab zu kreisen.
Ihre Gedanken verliefen offenbar in schlichteren Bahnen, niederer eben, ohne jedoch gänzlich auf animalische Instinkte beschränkt zu werden. In gewisser Weise empfand Lilith ihr momentanes Dasein als sorgenfrei, und vielleicht konnte sie künftig Abstand von den Dingen gewinnen, wenn sie in die Gestalt einer Fledermaus floh.
Ihre dahingehenden Überlegungen zerstoben wie unter einem Blitz, als sie tief unter sich eine unerwartete Wahrnehmung machte.
Jemand bewegte sich dort im Dunkeln ... Und die Art, wie er es tat, ließ keinen Zweifel daran, daß er darauf bedacht war, ungesehen zu bleiben.
Lilith legte die Flügel an, sackte in die Tiefe, und bremste ihren Sturz schließlich mit wieder ausgebreiteten Schwingen. Dann formulierte sie gedanklich den Befehl zur Rückverwandlung, und auch sie ging ohne Schmerz vonstatten.
Ihre Landung war wenig elegant.
Die Transformation in menschliche Gestalt war abgeschlossen, als Lilith sich noch fast zwei Meter über dem Boden befand, und so stürzte sie über diese Distanz hinab, vermochte die Wucht des Aufpralls nicht auszugleichen und fiel vornüber - - der Gestalt, die sie aus der Luft entdeckt hatte, buchstäblich vor die Füße. Erst als sie aufsah, erkannte Lilith, wer da vor ihr stand und erschrocken auf sie hinabschaute.
»Pomona?«
*
»Du willst noch einmal hinaus?«
Vador erstarrte im Dunkel der Hütte, als die Stimme seiner Frau hinter ihm aufklang. Seine Gedanken rasten auf der Suche nach einer - wenn schon nicht glaubwürdigen, so doch wenigstens beruhigenden - Ausrede.
»Vador? Nun rede doch.«
Ohne sich umzuwenden, antwortete er Xoc schließlich: »Ich - ich kann nicht schlafen. Vielleicht hilft mir ein kurzer Spaziergang an der frischen Luft.«
Xoc glaubte ihm nicht. Zwar sagte sie nichts, aber ihre spürbare Sorge wollte ihm schier den Atem abschnüren .
»Du mußt keine Angst um mich haben«, sagte er heiser.
Ein leises Schluchzen drang zu ihm und schnitt ihm wie eine Klinge ins Herz.
»Wie könnte ich nicht?« fragte Xoc mit erstickender Stimme und fügte bitter hinzu: »Wo in Mayab die Nacht doch mit dem Tode gleichzusetzen ist .«
Nicht mehr, wollte Vador erwidern, nicht mehr lange . Aber er schwieg. Wartete darauf, daß Xoc noch etwas sagte. Sekunden vergingen, in denen nur die Atemzüge ihrer schlafenden Kinder zu hören waren.
Als er das Schweigen als immer schwerer werdende Last auf sich spürte, flüsterte Vador: »Ich bin bald zurück.« Wieder wandte er sich nicht nach seiner Frau um. Denn obgleich er sie im Dunkeln nicht gesehen hätte, wäre es ihm vorgekommen, als lüge er Xoc ins
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