Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck
den leisesten Tönen wecken ließ, vom Ticken einer Uhr, von Stubenfliegen, die gegen das Fensterglas stießen, von den angstvoll vertuschten Geräuschen seiner Eltern. Offensichtlich aber nicht von richtigem Lärm. Das war gut so. Das war eine Erkenntnis, die man den Eltern des kleinen Leon verständlich machen mußte.
Wo aber waren diese Eltern?
Ein Schrecken überkam Lilli. Die Angst, Stavros und Inula könnten tot sein. Gleichzeitig drängte sich Lilli der Gedanke auf, daß sich in einem solchen Fall die Möglichkeit ergab, erneut ein Kind zu adoptieren. Auch wenn das natürlich alles andere als leicht sein würde. Aber im Adoptieren war Lilli ziemlich gut. Im An-den-Gesetzen-vorbei-Adoptieren.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Gott sei Dank. Lilli richtete sich auf, und endlich gelang es ihr, die gefesselten Hände hinter dem Kopf hervorzuziehen. Sie lief in die Küche, wo sie eine Schere fand und unter Aufwendung einiger Geschicklichkeit das mehrfach um die Gelenke und Unterarme gewundene Kunststoffband durchschnitt. Ihre Arme sahen aus wie auf einem Rost gegrillt. Aber das zählte jetzt nicht. So wenig wie der brennende Schmerz auf Lippe und Zunge. Sie spülte nur eilig den Mund aus und kehrte zu Leon zurück, den sie auf ihre Schulter bettete und hinüber ins Schlafzimmer der Stirlings trug, wo sie zwei regungslose Körper vorfand. Ein Blick auf die sich hebenden und senkenden Brustkörbe legte allerdings die Vermutung nahe, daß die beiden bloß betäubt worden waren. Und so war es auch. Der Batmanmann hatte glücklicherweise nicht zu diesen kopflosen Serienmördern gehört, die jedermann aus dem Weg räumten, der nur irgendwie in diesem Weg stand. Nein, er war viel zu elitär gewesen, die Stirlings zu töten. Er hatte es allein auf Lilli Steinbeck abgesehen gehabt. Sein Pech. Er hatte ein geniales Monster sein wollen, jetzt war er ein totes.
Der Schuß hatte zwar den kleinen Leon nicht geweckt, sehr wohl aber die Nachbarn, welche sofort die Polizei alarmierten. Noch bevor diese jedoch eintraf, plazierte Lilli das fortgesetzt schlafende Kind in einer Wippe und kehrte zurück in das Zimmer, in dem der tote Batman lag. Sein Gesicht schwamm in einem kleinen roten See.
Lilli überwand ihren Ekel und packte den Kerl an den Schultern, um ihn auf den Rücken zu wälzen und ihm die Maske vom Gesicht zu ziehen. Was sich als schwierig erwies. Der Kunststoff schien festzukleben. Lilli war gezwungen, sehr viel fester zuzupacken, als ihr lieb war. Angesichts von fremdem Blut. Sie hätte sich Handschuhe überziehen sollen. Aber dazu war es jetzt zu spät. Die Maske mußte herunter. Sie kniete sich hinter den Toten, krallte ihre Fingernägel zwischen Haut und Gummi und zog mit einem kräftigen Ruck die Larve vom Kopf.
Wen oder was hatte sie erwartet zu sehen? Dr. Antigonis? Kommissar Pagonidis? Einen Mann namens Suez oder Zeus? Einen wiedererweckten Henri Desprez? Einen wiedererweckten Georg Stransky? Nun, diese Männer waren alle kleiner als dieser hier, welcher freilich nicht an die Masse des Spiridon Kallimachos heranreichte, sondern im durchschnittlichen Sinne schwergewichtig zu nennen war. Seine Augen erinnerten an Teiche am Ende des Winters, wenn das Schmelzwasser eine Decke bildete, eine Decke, die nichts und niemand trug.
Lilli Steinbeck hatte diesen Mann noch nie gesehen. Das enttäuschte sie. Was blieb, war die Frage, ob dieser ihr Unbekannte derselbe gewesen war, der sie an ihrem ersten Abend in Athen überfallen hatte. Und ob auch diesmal Dr. Antigonis dahintersteckte. Wozu aber wäre das gut gewesen, sie erneut zu erschrecken? Sie erneut zu testen?
Für weitere Überlegungen fehlte die Zeit. Lilli vernahm aus dem Nebenzimmer ein gedehntes, wie durch einen Papierfilter gepreßtes Jammern, welches das Erwachen des kleinen Leon ankündigte. Und das, während sie selbst mit blutverschmierten Händen über der demaskierten Leiche eines vielleicht fünfzigjährigen, dunkelhaarigen Griechen kniete. Rasch lief sie ins Badezimmer, wusch sich die Hände, tauschte ihren blutigen Seidenpyjama gegen ihr Papageienkleid und holte den bereits tobenden Leon aus seiner Wippe. Gleichzeitig läutete es an der Türe. Die Polizei hatte sich beeilt. Lilli öffnete ihr und wies hinüber in das Zimmer, in welchem der Tote lag, ließ dann aber die verwirrten Beamten einfach stehen, um mit dem schreienden Leon die Küche aufzusuchen und ein Fläschchen mit Babymilch zuzubereiten.
Das Durcheinander, das zunächst entstand, war
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