Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck
Das Babygeschrei war unverkennbar.
»Sie hätten mir das ruhig sagen können«, meinte Steinbeck.
»Wie? Wegen dem Baby? Wären Sie dann gleich zurückgeflogen?«
»So meinte ich das nicht. Ich bin niemand, der wegen ein bißchen Kindergeschrei die Flucht ergreift.«
»Bißchen!?« Stirling entließ ein verächtliches Lachen. Das Lachen eines Schwergeplagten.
Auch wenn Lilli Steinbeck nie ein leibliches Kind gehabt und sie ihre Tochter als Halbwüchsige adoptiert hatte, war sie informiert genug, um zu wissen, wie der Umstand eines Stunde um Stunde plärrenden Säuglings die Eltern an den Rand eines Nervenzusammenbruchs und über den Rand hinaus befördern konnte. Gerade die Unschuld eines Kindes, nicht selten gepaart mit der Unschuld der Eltern, welche während der Schwangerschaft weder gekokst noch sich bekriegt oder auch nur die falsche Musik gespielt hatten, ließ eine solche Situation unerträglich werden. Dadurch, daß da niemand war, den man verantwortlich machen konnte. Nicht einmal sich selbst. Wenn ein Baby schrie und nicht aufhörte, dann erinnerte das an einen Pulsar, also einen extrem schnell rotierenden, kleinen Neutronenstern mit unglaublich dichter Masse. Pulsare konnten einen verrückt machen. Im Universum und zu Hause.
Dennoch ließ die Wohnung jenes Chaos vermissen, welches bei restlos entnervten jungen Eltern öfters anzutreffen ist. Vielmehr herrschte in den niedrigen, mit weißer Farbe verputzten und einem sandfarbenen Spannteppich ausgelegten Räumen eine unaufdringliche, nicht ungemütliche Ordnung, ein vernünftiges Nebeneinander von Gegenständen und von Abständen zwischen den Gegenständen. Ein langgestrecktes, orangerotes Sofa dominierte. Es war eindeutig das teuerste und neueste Stück in der Wohnung. Die Stereoanlage hingegen schien von vorgestern, das Fernsehgerät aus dem Jahre Schnee, und der hölzerne, gegen die gläserne Balkonwand gestellte Wohnzimmertisch sah aus, als habe er die längste Zeit in einem Keller verbracht, bevor dann die Hände eines Laien seine Renovation vorgenommen hatten. Dies war eindeutig die Wohnung von Menschen, die nach und nach Billiges und Selbstgemachtes durch neuere und bessere Produkte ersetzten. Wie gesagt, alles sehr sauber und durchdacht. Kein Ramsch. Lieber eine Lücke statt Ramsch.
In der Mitte dieser häuslichen Ordnung, vor dem Hintergrund eines schwach erröteten Morgenhimmels, stand eine junge Frau, eine weiße Windel über die eine Schulter, das schreiende Kind über die andere gelegt. Eine Gewichtheberin des Lebens. In ihrem Gesicht standen Müdigkeit, Verzweiflung und Vorwurf. Ihre Augen, die in kleinen, schwarzen Nestern klemmten, verweilten kurz auf Lilli Steinbeck und wanderten dann mit einer deutlichen Verschärfung des Blicks hinüber zum Kindsvater. Sie sagte etwas, das wie ein in die Gegenrichtung fahrender Zug am Gebrüll ihres Kindes vorbeizog. Ein kleiner Regionalzug im Vergleich zum Donnern der Maschine, die da auf die aufgehende Sonne zuflog.
Stirling erwiderte dem Regionalzug. In seiner Rede steckte der Name »Pagonidis«. Die junge Frau stöhnte laut auf. Es war klar, daß sie Stavros’ Vorgesetzten gern in die Hölle geschickt hätte. Pagonidis schien eindeutig kein Mann der Frauen.
»Darf ich Ihnen meine Frau Inula vorstellen«, wandte sich Stavros an Steinbeck.
Die beiden Frauen nickten sich zu. Die jüngere sagte: »Leon.« Das konnte eigentlich nur der Name des Kindes sein.
»Kommen Sie!« bat der Gastgeber. »Ich zeige Ihnen, wo Sie schlafen können.«
Als sie in ein dunkles Kabinett traten, in dem die warme Luft gebündelt stand, erkundigte sich Steinbeck bei Stirling: »Ist Leon denn überhaupt ein griechischer Name?«
»Eigentlich heißt er Pantaleon«, erklärte Stavros. Und fügte resignierend an: »Aber Sie wissen ja, wie das ist. Alles im Leben verkürzt sich.«
»Alles?« überlegte Lilli. »Immerhin werden in jedem Frühjahr die Tage wieder länger.«
»Ja, aber nur, weil die Nächte abnehmen.«
Das klang ein bißchen sehr banal, trug aber erstens eine große Wahrheit in sich – daß nämlich immer, wenn in dieser Welt etwas dazukam, ein Betrug dahinter stand – und war zweitens ein guter Satz, um einem langen Tag ein Ende zu machen.
4
Muß man wissen, was man ißt?
Es war halb zwölf am Vormittag, als Lilli Steinbeck in Begleitung des aus halber Abstammung und voller Überzeugung hervorgegangenen Griechen Stavros Stirling eine kleine Taverne betrat. Nein, keine Taverne, sondern eine
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