Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck
»Abgesehen davon, daß das Schiff, das uns herbrachte, nach Nouvelle Amsterdam unterwegs ist und erst in einigen Tagen zurückkehrt, sind wir aus einem guten Grund auf Saint Paul. Der Vogel! Der Vogel ist wichtiger als alles andere.«
»Ja, ich habe davon gehört«, sagte Lilli Steinbeck. »Beziehungsweise sah ich ihn gerade.«
»Was?!« Stransky riß die Arme hoch. Seine Augen traten weiß und rund hervor. Er fragte, nein, er schrie auf eine flüsternde Weise: »Wo? Verdammt, wo?«
»Na, gleich da drüben«, antwortete Steinbeck ganz ruhig. Ihre Ruhe war nicht gespielt. Sie mußte erst noch begreifen, daß es sich nicht um irgendein verschollenes Huhn handelte, sondern um ein geheimnisvolles Geschöpf, das einen Mann wie Georg Stransky über Nacht weltberühmt machen konnte.
Stransky rannte in die Richtung los, die Steinbeck ihm gewiesen hatte. Vartalo wollte ihn zurückhalten, aber der Vogelnarr war bereits über den Buckel gestiegen und in der dahinterliegenden Mulde verschwunden.
»Dieser verrückte …«, schimpfte Vartalo und lief in gebückter Haltung hinterher.
Steinbeck aber blieb, wo sie war, holte allerdings ihre Verlaine hervor.
Als Stransky wenig später in Begleitung Vartalos zurückkam, sah es aus, als hätte er Tränen in den Augen. Keine Freudentränen. Er fragte: »Sind Sie sicher, daß es ein Vogel war? Ein großer Vogel?«
»Sehr groß«, bestätigte Steinbeck. »Und sehr fett. Und er war gerade noch hier. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er so rasch verschwinden konnte.«
»Da ist aber nichts.«
Steinbeck zuckte mit den Achseln und wiederholte: »Ein großer, weißer, fetter Vogel.«
»Weiß?«
»Ja, weiß.«
Stransky überlegte. Er biß sich richtiggehend in den abgewinkelten Finger. Ein weißer Dodo vielleicht. Raphus solitarius, der praktisch ohne jeden Beleg dastehende Réunion-Solitär.
»Weiß und auch ein wenig rötlich«, präzisierte Steinbeck.
Übrigens war es Unsinn, wenn sie an ein Huhn oder einen Truthahn gedacht hatte oder einmal von Enten die Rede gewesen war. Dronten gehörten zur Familie der Tauben. So war das.
Stransky stammelte: »Wir müssen den Vogel finden.«
»Wir müssen uns in Sicherheit bringen«, entgegnete Vartalo.
In diesem Moment erhob sich ein heftiger Knall aus dem Inneren des Kraters. Und gebar weitere, kleinere Erschütterungen. Steinbeck lief hinüber zum Kraterrand, Vartalo hinter ihr her. Dann sahen sie es. Das zerborstene Flugzeug stand in Flammen, Teile klatschten auf dem Wasser auf und eine schwarze Rauchwolke stieg weit nach oben.
»Was ist das dort?« fragte Vartalo.
»Ein Flugzeug, das keines mehr ist.«
»Nein, daneben.«
»Das ist mein Mitarbeiter, Herr Kallimachos.«
»Entweder der Typ steht selbst noch als Toter aufrecht im Wasser … oder …«
»Er ist unverletzt, glauben Sie mir«, erklärte Lilli.
Offensichtlich hatte Henri Desprez das Wasserflugzeug entdeckt und seine Mannschaft angewiesen, es mit einer Rakete in die Luft zu sprengen. Auch nicht besser als die Leute im Jemen, die ein Taxi bombardiert hatten. Und genauso wie damals schienen die umherfliegenden Flugzeugteile und die Flammenstöße explodierenden Treibstoffs sich angewidert um den Detektiv Kallimachos herumgewunden zu haben. Auf die Ferne war zu erkennen, wie nun der Grieche, einen schwerfälligen Schritt vor den anderen setzend, aus dem Wasser stakste. Für die zwei Männer im Flugzeug freilich war das Spiel vorbei. Statisten, die nur wenige Sekunden das Bild gequert hatten, von einer Leere in die andere schreitend. Sie zählten nicht, diese Figuren. Folgerichtig stellte Steinbeck fest, daß man ein Flugzeug verloren habe.
»Wo ist Stransky?« fragte Vartalo und wandte sich rasch um.
Ja, wo war Stransky?
Er war nirgends zu sehen, antwortete auch nicht, als Vartalo ihn rief. Dafür hatten Vartalo und Steinbeck es endlich geschafft, Desprez’ Leute auf sich aufmerksam zu machen. Mehrere Projektile pfiffen knapp über sie hinweg. Und trafen wohl nur darum nicht, weil hier oben ein heftiger Wind ging und die Luft in starke Bewegung versetzte, in ein Schaukeln, eine rummelplatzartige Unruhe.
Sogleich erwiderten Vartalo und Steinbeck das Feuer und sprangen in eine der Gruben, aus der sie, ihre Waffen wie um eine Häuserecke haltend, praktisch blind nach draußen schossen. Manchmal war es einfach nur möglich, Lärm zu machen.
»Hierher!«
Die beiden sahen nach unten. Ein paar Schritte entfernt, in einer Bodenrinne, halb versteckt zwischen
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