Lilly Höschen (01): Walpurgismord
bring das Schwein um. Ich mach ihn kalt. Ich habe auf ihn eingeredet, aber es half nichts. Dann sind wir auf das Wehr gegangen, das über den Fluss führt. Als wir in der Mitte waren, kam Frater Anselm Schott lächelnd auf uns zu. Wenn wir weggerannt wären, hätten wir in den Fluss stürzen können. Wir waren gefangen. Frater Anselm kam ganz langsam auf uns zu, schnallte seinen Gürtel ab und sagte: Ich bin dir noch etwas schuldig, Georg. Und man sollte doch seine Schulden bezahlen. Ich denke, fünfundzwanzig Schläge wären angemessen. Geh vorsichtig zurück, damit du nicht ins Wasser fällst, und dann legst du dich über den Baumstumpf, und ich werde endlich meine Schulden los. Als Georg in Reichweite des Fraters war, holte er aus und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Frater verlor das Gleichgewicht und stürzte das Wehr hinunter in den Fluss. Der Strudel war so stark, dass er nicht wieder auftauchte. Außerdem hatte das Wasser vielleicht eine Temperatur von zwei, drei Grad.«
Jetzt stützte Gutbrodt seine Arme auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Es war mucksmäuschenstill im Raum. Dann erzählte er weiter:
»Wir gingen zum Ufer, schauten nach dem Frater. Nach einiger Zeit tauchte er auf – mit dem Gesicht nach unten. Zuerst waren wir total bestürzt. Und nach einiger Zeit sagte Georg lachend: Das Schwein ist tot. Und ich sagte: Das erzählen wir keinem Menschen, niemals. Wir schlossen einen Pakt. Wir legten uns zurecht, wo wir wann waren, dass wir nichts gesehen hatten und so weiter. Zum Schluss sagte ich: Auf Gedeih und Verderb – wir bleiben Freunde. Und Georg wiederholte es, und dann sagten wir es gemeinsam und klatschten uns gegenseitig in die Hände. So, jetzt wissen Sie alles.«
Nach einer halben Minute durchbrach Schneider das Schweigen:
»Es ist gut, dass Sie das erzählt haben. Gut für uns und gut für Sie. Der Tod des Fraters wurde damals als Unfall angesehen. Und im Grunde war er das ja auch. Und was Georg getan hat, war eindeutig Notwehr. Ist es möglich, dass irgend jemand Sie damals beobachtet hat? Zum Beispiel Michael Leutkamp?«
»Nein, das ist nicht möglich. Er war in einem Kurs. Den zu versäumen hätte Prügel bedeutet. Und das war bei Michael nicht denkbar. Außerdem war das Wetter saumäßig. Es war Ende November. Da war niemand, der im Park spazieren ging. Wir hatten einen weiten Blick in alle Richtungen.«
»Wenn absolut niemand von diesem Spruch wusste, dann kann tatsächlich nur Georg Besserdich dafür in Frage kommen. Oder Sie.«
»Da haben Sie allerdings recht, Herr Schneider. Nur, ich weiß eben, dass ich mir diesen Brief nicht selbst geschickt habe. Und da ich ein Alibi für die Tatzeit des Mordes an meiner Frau habe, wäre es ja auch sinnlos, mir selbst diesen Brief zu schreiben.«
»Wir müssen Michael Leutkamp finden«, sagte Gisela Berger, und die beiden Männer schauten sie ganz entgeistert an, als hätten sie ihre Anwesenheit erst jetzt bemerkt.
»Und ich denke, da brauchen wir nicht nach Bayern und auch nicht nach Amerika zu reisen. Wenn er hier sein Unwesen treibt, muss er zumindest ein Domizil in der Gegend haben. Vielleicht sitzt er nur ein paar Häuser entfernt von hier und freut sich darüber, wie blöd wir sind.«
Die beiden Männer konnten den Redeschwall von Gisela Berger kaum fassen und Schneider entgegnete:
»Nun gut, Gisela, ich mache Sie hiermit zur hauptamtlichen Sucherin von Michael Leutkamp.«
Goslar, 3. September 2010
Kommissar Schneider hatte seine fünf Mitarbeiter im Konferenzraum versammelt. Gisela Berger sollte über ihre Recherchen bezüglich Michael Leutkamp berichten. Sie stand am Kopfende des Tisches und warf mit dem Beamer das Bild eines jungen Mannes an die Wand.
»Das ist Michael Leutkamp im Alter von dreiundzwanzig Jahren. Das Foto wurde in den USA aufgenommen. Es ist das letzte Foto, neuere gibt es nicht beziehungsweise haben wir nicht. Es ist also vierunddreißig Jahre alt. Er dürfte sich inzwischen ein wenig verändert haben.«
Das Bild zeigte einen lächelnden jungen Mann vor einem Universitätsgebäude. Er trug Schlips und Kragen und Gisela erzählte, dass es anlässlich seiner letzten Prüfung aufgenommen wurde, die er mit guten Noten bestanden hatte. Das hatte jedenfalls seine Mutter erzählt.
»Was wissen wir noch über den Mann? Er ist hundertachtundsiebzig Zentimeter groß, schlank, hatte dunkles Haar, das inzwischen, sofern noch vorhanden, wahrscheinlich grau ist. Bis auf die
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