Lilly Höschen (01): Walpurgismord
kleinen Besprechungsraum saß dieser nun dem Kommissar und seiner Assistentin gegenüber.
»Schön, dass Sie gekommen sind, Herr Gutbrodt.«
»Das ist selbstverständlich.«
»Müssen Sie eigentlich gar nicht arbeiten?«
»Ich habe mich beurlauben lassen. Außerdem habe ich die Pensionierung beantragt. Das kann natürlich noch dauern, da ich erst neunundfünfzig bin. Aber glücklicherweise bin ich in der Lage, mit meinen Mitteln notfalls auch ein paar Jahre ohne Einkommen durchzuhalten. Jedenfalls bin ich nach all dem nicht mehr in der Lage, meiner Arbeit nachzugehen. Ich trage mich auch mit dem Gedanken, wegzuziehen.«
»Tja, das wäre allerdings schade«, sagte Schneider, »gerade jetzt, wo Sie sich Ihrem Sohn offenbart haben, der Sie ja, wie ich so rausgehört habe, durchaus schätzt.«
»Ich muss ja nicht ans Ende der Welt ziehen.«
»Gut. Also, Herr Gutbrodt, ich will Sie davon in Kenntnis setzen, dass wir uns bei den Kollegen in Bayern intensiv mit allem beschäftigt haben. Und wir haben Hinweise, dass wir im Umfeld des Internats suchen sollten. Es gibt eine Liste mit Lehrkräften, die nachweislich oder zum Teil mutmaßlich Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Und es gibt eine Liste mit Schülern, die unter diesen besonders gelitten haben. Einer der besagten Lehrer lebt noch. Er ist in einem Kloster in Südamerika, fällt also nicht in unseren Zuständigkeitsbereich. Die betroffenen Schüler haben wir alle durchgecheckt. Und alle haben für die Tatzeit ein Alibi. Besser gesagt, alle uns bekannten. Leider konnten wir zwei Schüler nicht finden. Zum Einen Georg Besserdich. Hier haben wir bisher vermutet, dass er nicht mehr lebt. Und der andere ist der Ihnen bekannte Michael Leutkamp.«
»Sie haben Michael nicht gefunden?«
»Nein. Haben Sie eine Ahnung, wo er stecken könnte?«
»Absolut nicht. Ich habe nach der Schulzeit nie wieder etwas von ihm gehört oder gesehen.«
»Das dachte ich mir. Wir waren bei seiner Mutter in Würzburg. Sie ist eine sehr extrovertierte alte Dame. Kommt mir vor wie eine in die Jahre gekommene Filmdiva.«
Gutbrodt musste lächeln und Gisela Berger nuschelte: »Eine abgetakelte Fregatte trifft es wohl eher.«
Schneider sah seine Assistentin scharf an und Gutbrodt schmunzelte.
»Nun«, fuhr Schneider fort, »sie hat ihren Sohn vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen, als er nach Würzburg kam, um das Erbe seines Vaters zu kassieren. Ein nicht unbeträchtliches Erbe. Zuvor hat er in Amerika studiert und hatte dann Jobs in aller Welt. Nach seinem letzten Besuch in Würzburg verliert sich seine Spur. Mit seiner Mutter hat er offenbar nichts im Sinn. Und ich glaube, sie kann den Verlust auch verschmerzen. Sie reist in der Welt herum und umgibt sich mit allerlei schillernden Freunden.«
»Das sieht ihr ähnlich.«
»Sie kennen die Frau?«
»Ich hab sie ein paar Mal im Internat gesehen.«
»Nun gut«, jetzt räusperte sich der Kommissar und fuhr fort: »Herr Gutbrodt, Sie als Staatsanwalt wissen natürlich, wie sehr man in einer Ermittlung auf die lückenlose Aussage von Zeugen angewiesen ist. Und hier geht es um Mord. Ich möchte Sie bitten, mir genau zu sagen, was es mit dem Spruch Auf Gedeih und Verderb – wir bleiben Freunde auf sich hat.«
Gutbrodt druckste herum: »Es fällt mir schwer. In den mehr als vierzig Jahren habe ich das niemandem erzählt.«
»Herr Gutbrodt, ganz egal, was Sie getan haben, es zählt heute nicht mehr, sofern es kein vorsetzlicher Mord war. Aber wenn uns vielleicht geholfen wird, Morde aufzuklären und weitere Verbrechen zu verhindern...«
»Ich weiß. Und ich werde jetzt über meinen Schatten springen. Vielleicht muss es endlich mal raus. Möglicherweise fühle ich mich dann auch besser.«
Hans Gutbrodt lehnte sich zurück, richtete die Augen nach oben und erzählte ganz langsam, als ob er an einem anderen Ort wäre:
»Wir waren sechzehn. Da tauchte am Internat ein junger Lehrer auf, Frater Anselm Schott. Er war sportlich, gab sich kameradschaftlich. Und er stellte es auch als kameradschaftlich, ja als Freundschaftsdienst hin, wenn er Jungen verprügelte. Und das tat er mit größter Gewissenhaftigkeit. Auf die Einzelheiten kann ich immer noch nicht eingehen. Es ist einfach zu pervers. Jedenfalls hat er eines Tages einen Annäherungsversuch bei Georg gemacht. Und Georg hat ihm in die Fresse gehauen und ist weggerannt. Er hat sich im Park versteckt, und ich habe ihn gefunden. Die ganze Zeit über führte er Selbstgespräche: Ich
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