Lilly Höschen (01): Walpurgismord
Staatsanwalt aus dem Bett klingeln und die Kollegen. Großes Aufgebot. Wann haben wir es schon mal mit einem Mehrfachmörder und Entführer zu tun? Jetzt darf nichts mehr schiefgehen. Wir greifen einfach zu und zack.«
So vital hatte Gisela ihren Chef bisher nur selten gesehen. Sie freute sich, dass sie ihn mit ihrer Euphorie angesteckt hatte.
Gegen 5:00 Uhr waren Schneider, Gisela Berger, zwei weitere Kollegen, der Staatsanwalt und vier uniformierte Polizisten am Haus von Manfred Wiebe beziehungsweise Michael Leutkamp. Als er nicht öffnete, drangen sie gewaltsam in das Haus ein. Seine Wohnung im obersten Geschoss war einsam und verlassen. Also klingelte man den Geschäftsführer, Herrn Beermann, der woanders wohnte, aus dem Bett. Dieser sagte, dass sein Teilhaber gestern nach Kanada geflogen sei, und zwar zusammen mit Anwalt Amadeus Besserdich. Aber da er nun ohnehin schon wach sei, erkärte sich Herr Beermann bereit, ins Büro zu kommen.
»Das kann nicht wahr sein«, sagte Schneider ganz leise vor sich hin. »Er hat sich an Amadeus Besserdich rangemacht. Sie sind zusammen in Kanada. Mein Gott, der arme Junge. Hoffentlich passiert ihm nichts.«
Gisela war fassungslos und wütend zugleich. Warum konnte diese blöde Tussi in Amerika nicht einen halben Tag eher herausfinden, wen er geheiratet hatte. Dann hätten sie jetzt ihren Mörder und könnten ihn nach allen Regeln der Kunst vernehmen. Und wenn er nicht geständig wäre, könnte man ihm Punkt für Punkt alles nachweisen. Wer weiß, was er vielleicht noch alles auf dem Kerbholz hatte?
»Und jetzt ist dieser Scheißkerl einfach in Kanada. Und da kann er sein nächstes Opfer in aller Ruhe um die Ecke bringen. Verdammt nochmal!«
»Gisela, bleiben Sie ruhig. Das bringt jetzt nichts. Warten wir erst mal ab, was uns Herr Beermann erzählen kann«, sagte Schneider.
»Aber wir müssen Herrn Besserdich warnen. Und wir müssen die kanadische Polizei kontaktieren, damit sie Wiebe festnehmen.«
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Wenn er kanadischer Staatsbürger ist, wird er möglicherweise gar nicht ausgeliefert. Wir reden jetzt erstmal mit Herrn Beermann, und dann setzen wir uns mit dem Staatsanwalt und einem Richter zusammen, der etwas von den kanadischen Rechtsverhältnissen versteht. Und erst dann werden wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Wir dürfen auf keinen Fall übers Ziel hinausschießen.«
Giselas Stimmung schlug in Depression um, als sie spürte, dass sich der Schlafmangel bemerkbar machte.
»Aber das mindeste wäre doch, Herrn Besserdich zu warnen. Wir haben doch seine Handynummer.«
»Okay, ich habe seine Nummer gespeichert. So mache ich das immer mit den Leuten, mit denen wir uns gerade beschäftigen. Ich rufe an. In Winnipeg ist es jetzt gegen Mitternacht. Vielleicht haben wir Glück.«
Schneider wählte. Nach langem Klingeln wurde am anderen Ende abgenommen:
»Hallo.«
»Ja hallo. Hier ist Schneider. Bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Bei Ihnen muss es jetzt gegen Mitternacht sein. Aber ich habe Ihnen etwas Dringendes mitzuteilen.«
»Äh, Verzeihung, aber...«
»Wenn Sie nicht allein sind, hören Sie bitte einfach nur zu. Sie sind in großer Gefahr. Wir müssen davon ausgehen, dass Ihr Mandant der Mörder und Entführer ist.«
»Entschuldigung. Ich kann Sie kaum verstehen. Hier im Norden ist der Empfang so schlecht. Ich glaube, gleich ist das Netz ganz weg.«
»Haben Sie mich verstanden?«
»Hallo, ich verstehe jetzt gar nichts mehr.«
Das Gespräch war weg, und Schneider schaute seine Assistentin nachdenklich an.
»Keine Verbindung mehr. Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt verstanden hat.«
Thompson, Kanada, 8. September 2010
Amadeus kam von der Toilette in den Gastraum zurück und Herr Wiebe sagte:
»Ihr Handy hat eben geklingelt. Ich habe mit erlaubt, das Gespräch anzunehmen. Es hätte ja etwas Wichtiges sein können.«
»Oh ja, danke. Und wer war dran?«
»Tut mir leid. Ich habe nichts verstanden. Ich weiß nur, dass es eine Männerstimme war. Ich wollte erklären, dass ich nicht Sie bin, aber der Typ hat immer weiter geredet. Und dann war das Netz ganz weg. Hier oben muss man aufs Handy verzichten. Wenn man in die Wildnis geht, braucht man ein Satellitentelefon. Aber hier im Ort gibt es natürlich auch das Festnetz. Vielleicht wollen Sie zu Hause anrufen?«
»Wenn es eine Frauenstimme gewesen wäre, dann würde ich meine Großtante oder meine Freundin anrufen. Aber eine Männerstimme,
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