Lilly unter den Linden
dir ein leises Plätschern vor von einem kleinen Bach. Dann kannst du fast meinen, du wärst bei uns«, meinte Lena.
»Wirklich?« Ich blinzelte zu Lena und bemerkte, dass sie sich ganz darauf konzentrierte. Wir standen beide mit halb zugekniffenen Augen im Dunkeln und starrten in die Gegend. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so etwas gemacht zu haben.
»Ja, ja, es ist ganz ähnlich!«, bestätigte meine Tante. »Das Licht hinter den Fenstern, die Straßenlaternen, der Schatten der hohen Bäume … lange Reihen hoher alter Häuser … dunkle Hinterhöfe, in denen die Katzen auf die Jagd gehen … ab und zu hörst du ein Auto über das Kopfsteinpflaster rumpeln … und jetzt machst du die Augen wieder auf. Peng!« Sie lachte ihr fröhliches, tiefes Lachen. »Plötzlich ist alles wie verzaubert! Funkelnagelneu!«
»Hast du nie daran gedacht, zu türmen?«
»Warum sollte ich?«, meinte Lena. »Das ist doch mein Zuhause. Und dass einem immer alles gefällt … das gibt’s doch sowieso nicht.«
»Und du wohnst sogar noch im selben Haus wie früher!«
»Mein ganzes Leben. Erst mit den Eltern, dann Rita und ich, und jetzt mit meiner eigenen Familie. Manchmal sehe ich richtig Gespenster. Dann bin ich wieder zwanzig und sehe Paps am Küchentisch sitzen. Oder meine kleine Schwester schimpft über den Hausaufgaben und ich merke, hoppla, das ist ja meine Tochter!« Lena schüttelte den Kopf. »Als wäre die Zeit stehen geblieben.«
»Wenn es doch so wäre«, murmelte ich.
Wir schwiegen eine Weile. Ich dachte erst, Lena hätte mich gar nicht gehört. Dann fragte sie: »Wo würdest du sie denn anhalten?«
»Ich weiß nicht genau. Bevor Mami krank wurde. Aber vielleicht auch … gerade jetzt.« Ich warf Lena einen scheuen Blick zu. Sie streckte die Hand aus und berührte ganz leicht meine Wange. Dabei sah sie mich wieder mit diesem traurigen, zärtlichen Blick an, der mich schon in der Kirche getroffen hatte.
»Mami ist einfach immer weniger geworden«, hörte ich mich leise sagen. »Ihr Handgelenk war so dünn wie meins, und ihr Gesicht … grau und ganz faltig. Ich bin jeden Nachmittag hingefahren. Dann haben wir darüber geredet, wie schön wir es uns machen, wenn sie wieder gesund ist. Nur … irgendwann hörte sie auf zu hoffen. Das hab ich genau gemerkt. Und von ihren Freunden kam auch keiner mehr.«
»Pascal …?«, fragte sie leise.
»Pascal kann es nicht ertragen, wenn Schönheit zerstört wird. Das lähmt ihn, sagt er. Er ist wenigstens ehrlich. Alle anderen lähmt es auch, aber sie geben es nicht zu und denken, du merkst es nicht.«
Ein Hupen ertönte, wir zuckten beide zusammen. Ich beugte mich vor und spähte hinunter. »Das Taxi ist da!«
Ich war fast ein wenig erleichtert. Das Hupen hatte mich in die Gegenwart zurückgeholt; ich weiß nicht, was ich Lena sonst noch alles von uns erzählt hätte. Es war ein seltsames, fast unheimliches Gefühl: diese Vertrautheit mit einem Menschen, den ich erst vor wenigen Stunden zum ersten Mal gesehen hatte. Dabei gehöre ich gar nicht zu denen, die leicht Freundschaft schließen oder sich anderen anvertrauen. Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Es zog mich an und machte mir gleichzeitig Angst. Ich hatte es fast ein bisschen eilig, von Lena wegzukommen.
Aber im Taxi, als ich durchs Rückfenster sah, wie sie winkte und immer kleiner wurde, während ich wegfuhr, überfiel mich eine solche Verlassenheit, dass ich in Tränen ausbrach. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Ich weinte den ganzen Weg bis Poppenbüttel. Der Taxifahrer reichte Papiertaschentücher nach hinten und redete tröstend auf mich ein, aber ich hörte nicht ein Wort von dem, was er sagte.
6
Später habe ich erfahren, was in dieser Nacht noch passiert ist – wie Pascal zu später Stunde vom Flughafen nach Hause kam und merkte, dass jemand in der Wohnung war, und wie sie einander fast zu Tode erschreckten. Pascal behauptet, dass Lena gellender geschrien habe als eine Dampfpfeife. Sie behauptet, das habe nicht annähernd gereicht, um ihn zu übertönen. Die beiden mögen sich und necken sich gern und haben einander diese Nacht nach Mamis Beerdigung nicht vergessen, in der sie, die beiden Wildfremden, bis in die Morgenstunden hinein Erinnerungen austauschten, miteinander weinten und sich gegenseitig trösteten.
Und als ich am nächsten Morgen erwartungsvoll in die Küche kam – Radiomusik und Kaffeeduft drangen schon durch die Tür –, stand er gerade an der Anrichte und
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