Lilly unter den Linden
Stimme: »Riiita …!«, bevor sie in gespieltem Entsetzen in den Flur floh. Das Tablett auf den Knien, ließ ich mich lachend rücklings aufs Bett fallen.
Wie dumm es von mir gewesen war, zu glauben, dass Lena sich von den äußeren Umständen niederschmettern ließ! Das Einzige, was zählte, war, dass wir einander gefunden hatten.
Manchmal ist es ja so, dass man sich jedes Detail eines besonderen Tages genau einzuprägen versucht, um sich später für immer daran zu erinnern. Aber meistens gelingt das nicht. Auch mir blieben – außer dem Gefühl dieses ersten Adventssonntags – nur so vereinzelte Erinnerungen im Gedächtnis, dass es mir später schwer fiel, die vielen Fotos, die Pascal gemacht hatte, meinen eigenen inneren Bildern zuzuordnen.
Ich erinnere mich an Mamis verstaubten BMW, den wir mit vereinten Kräften aus der Tiefgarage schoben, und an Lenas kindliches Entzücken, als der Wagen endlich ansprang und sie zum ersten Mal in ihrem Leben über 200 PS herrschte. In Pascals gefütterter Lederkappe sah sie aus wie ein weiblicher Charles Lindbergh, und dessen Triumphgefühl über dem Atlantik kann kaum größer gewesen sein als das von Lena auf der Elbchaussee. »Haben wir Winterreifen drauf? Haben wir Winterreifen drauf?«, fragte Pascal die ganze Zeit.
Ich saß hinten und hielt den Drachen. Das ist alles ein Traum, dachte ich. Siehst du uns zu, Mami?
Am Strand von Blankenese war es so eiskalt und windig, dass wir ihn ganz für uns hatten. Lena und ich plagten uns mit dem Drachen ab, aber als wir ihn endlich oben hatten, wurde uns innerhalb kürzester Zeit so kalt, dass wir ihn wieder einholten. Ich schlüpfte mit unter Lenas weiten Capemantel und sie hielt mich ganz fest umarmt, während wir zum Leuchtturm marschierten. Pascal versuchte mit uns Schritt zu halten, während er fotografierte. Normalerweise hasse ich diese Knipserei, aber diesmal störte es mich gar nicht. Eigentlich merkte ich nicht einmal, dass Pascal überhaupt da war.
Zum Mittagessen gingen wir in ein kleines gemütliches Fischrestaurant in Blankenese. »Gibt es so etwas bei euch auch?«, fragte ich Lena, die mir gegenübersaß.
»Du meinst Gaststätten?« Sie nippte an ihrem Wein und schmunzelte. »Aber natürlich! Das Angebot ist ungefähr so groß –«, sie zeigte mit zwei Fingern die Größe eines Zuckerwürfels, »denn wenn etwas auf der Speisekarte steht, heißt es nicht, dass es das auch wirklich gibt. Aber natürlich haben wir Gaststätten!«
Ich wurde verlegen. »Entschuldigung. War ’ne blöde Frage.«
»Rita hat dir wohl nicht viel von uns erzählt?«, fragte Lena zurück.
»Doch, klar«, erwiderte ich schnell. Plötzlich standen mir die Abende auf der Terrasse in der Lüneburger Heide vor Augen und ich fügte ein wenig herausfordernd hinzu: »Ich weiß eine ganze Menge über dich.«
»So? Was denn?«
»Zum Beispiel dass du und Mami zusammen gewohnt habt, nachdem eure Eltern verunglückt waren«, sagte ich triumphierend, »dass ihr verbotene Bücher gelesen habt, bis Rudi mit der Mütze verpfiffen wurde, und dass du um ein Haar gar nicht Onkel Rolf geheiratet hättest, sondern einen Erfinder namens Bernd. Ihr habt zusammen studiert und wart sogar richtige …« Ich sah kurz nach rechts und links, beugte mich vor und raunte: » Kommunisten! «
Lena lehnte sich zurück und lachte. Pascal sah mich strafend an. »So schlimm ist das doch auch wieder nicht, oder?«, fragte ich bestürzt.
Lena griff über den Tisch nach meiner Hand. »Weißt du, Lilly«, sagte sie, »im Grunde wünscht sich die ganze Welt dasselbe: Frieden und dass es allen gut geht. Leider hat diesen Zustand noch niemand erreicht, und solange das so ist, werden die Menschen immer weiter streiten, was der beste Weg sein könnte.«
»Siehst du«, sagte ich vorwurfsvoll zu Pascal.
Lena grinste mich an. Sie hat ein unschlagbares Grinsen, beinahe von Ohr zu Ohr. »Und willst du auch wissen, was ich über dich weiß?«, fragte sie.
»Na klar!«
»Hm. Du magst Sport und Französisch und fährst im Winter in den Skiurlaub, du gehst gern ins Kino und liebst Gummibärchen, aber Rauchen und Motorräder magst du überhaupt nicht. Und … du hast einen Hamster namens Elvis.«
»Nicht mehr – den durfte ich nicht ins Internat mitnehmen. Aber sonst stimmt alles haargenau! Ist es nicht toll, dass Lena und ich so viel voneinander wissen, ohne dass wir uns je getroffen haben?«, fragte ich Pascal.
»Na, so viel auch wieder nicht«, erwiderte er ein
Weitere Kostenlose Bücher