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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Gott?«
    Kleine Wellen rollten murmelnd zwischen den Lichtern davon, die die Stadt aufs Wasser zauberte.
    »Ich glaube an die Sehnsucht nach Gott«, flüsterte Lena. »Und an das oder den, der uns diese Sehnsucht ins Herz legt. Vielleicht ist das Gott?«
    Kühl und glatt lag der Stein in meiner Hand, als ich die Finger fest darum schloss. Ringe überzogen die glitzernde Wasseroberfläche, als er in die fremde Welt fiel, dann war alles still.
    Hinter dem Fenster sausten beleuchtete Schaufenster und Kinoreklamen vorbei. Die Ampeln standen auf Grün. Das Internat war fast dunkel, Pascal schaltete Motor und Scheinwerfer aus. »Na dann«, sagte ich und öffnete die Tür.
    Ich hatte diesen Moment den ganzen Tag gefürchtet, doch jetzt war ich beinahe froh, dass er sich nicht mehr aufschieben ließ, dass er schon fast hinter mir lag. »Ich bring dich noch rein«, sagte Lena und stieg mit mir aus.
    »Brauchst du nicht.« Ich blieb stehen. Ein kleiner fester Knoten steckte in meiner Brust und regte sich nicht mehr. Er ließ meine Stimme kühl klingen, obwohl ich es gar nicht so meinte.
    »Ich mach’s aber gern«, erwiderte Lena.
    Es klang fragend, sie hatte schon verstanden. Ich hielt ihr die Hand hin. »Nein, wirklich, ich sag lieber hier Tschüss.«
    Ich war wie ein Brett, als Lena mich in den Arm nahm. Dabei hätte ich ihr so gern etwas Unvergessliches gesagt. »Wann geht dein Zug?«, fragte ich in ihren Mantel hinein.
    »Um elf. Denk an mich, ja?«
    Lena ließ mich wieder los. »Komm bald wieder«, brachte ich heraus.
    »Ich versuch’s.« Lena konnte sprechen, ohne die Lippen zu bewegen.
    »Ich ruf dich an!«, rief Pascal mir nach, als ich auf das Internat zuging.
    Ich hörte, ahnte vielmehr, wie Lena mit ganz fremder Stimme »Verdammt, verdammt, verdammt!« in meinen Rücken sagte.
    Die Nachtpförtnerin schaute Fernsehen.

7
    Marion Bach hatte sich die Haare nicht gewaschen. Links und rechts fielen kleine weiße Flocken auf ihre Schultern, während sie, nach vorne gebeugt, ruckartig Miss Schnitzlers berüchtigtem Diktattempo zu folgen versuchte. Marions Schuppen waren mir, die ich in der Klasse hinter ihr saß, schon früher aufgefallen; noch nie hatte ich Anstoß daran genommen. Aber an diesem Morgen konnte ich einen ungewöhnlich klaren Blick in mein so genanntes zukünftiges Leben tun. Ich konnte nichts erkennen, was die Bezeichnung »Leben« überhaupt rechtfertigte, nichts, wofür es sich lohnte, zu schlafen und aufzustehen, sich an- und auszuziehen, zu essen und erwachsen zu werden. Die fremden Haare, die ich morgens in der Dusche gefunden hatte, der verklebte Löffel in der Frühstücksmarmelade und Miss Schnitzlers affektiertes »th«, bei dem sie wie eine Viper vor sich hin züngelte, vereinten sich mit den Schuppen der armen Marion zu einer dunklen Wolke, die sich drohend über mir zusammenbraute.
    »Having taken the dog to the veterinarian …«, Miss Schnitzler riss die Augen bei jeder zweiten Silbe weit auf, »Harold drove back to his house. Full stop.«
    Full stop … Ich hatte nicht zugehört, was die Lehrerin diktierte. Mein Füller bewegte sich automatisch über das Blatt, und als ich später nachsah, was ich geschrieben hatte, stand dort: NEIN NEIN NEIN NEIN, viele Male hintereinander in Großbuchstaben. Aber Full stop , das war das Wort, mit dem ich im Nebel zusammenstieß.
    »His wife had already removed the carpet. Full stop.«
    Miss Schnitzler bewegte sich mit rezitatorischem Schwanken im Mittelgang hin und her. Jetzt war sie an mir vorbei und gab den Blick frei auf die Wanduhr. Zehn Uhr zweiundzwanzig.
    »The floor looked blank …«
    Ich hörte auf zu schreiben. In meinem Ohr war ein Geräusch, eigentlich nur ein leises nervöses Summen, aber es klang wie ein Nebelhorn. Da war ein Schiff. Zehn Uhr vierundzwanzig.
    »And the entire house seemed very sad without the dog. Full stop.”
    Zweiunddreißig Mädchen und die Lehrerin zuckten zusammen, als mein Stuhl polternd nach hinten fiel. Der Füller rollte über den Tisch, das Heft stürzte über die Klippe. Ich stürmte aus der Klasse und rannte buchstäblich um mein Leben.
    »Lilly! Return to your seat at once!«
    Die Tür knallte ins Schloss. Im Schutz der allgemeinen Verblüffung beugte sich Meggi verstohlen in den Gang, um mein Heft aufzuheben. NEIN NEIN NEIN NEIN stand da, und Meggi klappte das Heft schnell zu, ehe die Schnitzler es sehen konnte.
    Das einzige nicht abgeschlossene Fahrrad im Fahrradständer war zwei Nummern zu groß,

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