Lilly unter den Linden
der Rahmen klapperte und die Kette schleifte, aber die Klingel funktionierte ausgezeichnet. Wie auf Knopfdruck sprangen Menschen aus dem Weg, als ich durch den Bahnhof brauste. Die Anzeigetafel verriet mir, was ich wissen musste: Der Zug war noch da, es war noch nicht zu spät.
»Tante Lena!«, schrie ich über das Gleis.
Der erste richtige Hilferuf meines Lebens quietschte dünn heraus, weil ich so außer Atem war. Lena und Pascal gingen bereits am Zug entlang, die Reisetasche zwischen sich, ganz weit hinten auf dem Bahnsteig, und es war eigentlich unmöglich, dass mein kraftloses Piepsen bis zu ihnen drang. Es muss ein familiärer sechster Sinn gewesen sein, der Lena anhalten und sich umdrehen ließ.
Da war ich schon fast bei ihr. Nie werde ich Lenas Augen vergessen, als das Rad zu Boden schepperte und ich ihr weinend in die Arme flog.
»Ich will mit! Lass mich nicht hier!«
»Lilly! Oh nein, das darf nicht wahr sein!«
Die Umarmung war dieselbe, aber war das wirklich Lenas Stimme? Konnte Lena so ratlos und erschrocken klingen? »Bitte, Herzchen, das kann ich doch nicht, das darf ich doch gar nicht!«
Der Zugführer pfiff. Ich blickte auf und schaute Lena an und konnte nicht glauben, was ich sah.
Von hinten riss Pascal an meiner Schulter, meinen Armen. »Lilly, sei doch vernünftig. Komm, mein Mädchen, ich bin doch auch noch da.«
Eine nicht gekannte Woge des Zorns schlug über mir zusammen, erfüllte mich heiß bis in die Fingerspitzen und machte sich in einem Gebrüll Luft. »Wieso kannst du nicht?«, schrie ich Lena ins Gesicht. »Du bist meine Familie! Du kannst doch jetzt nicht einfach wegfahren!«
Der Zugführer pfiff nochmals, dann kam er zu uns hinüber. Lena wirkte wie erstarrt, als die beiden Männer an mir herumzerrten. Ich wollte ihr den Mantel zerreißen, mit beiden Händen das Gesicht zerkratzen, das mich verriet, das mir nicht half. Ein Gewirr von Armen war um mich herum.
»Lilly, jetzt ist es gut!« Pascal war peinlich berührt. »Der Zug fährt ab! Was glaubst du, was für Schwierigkeiten Lena bekommt, wenn sie den Zug verpasst!«
»So ein großes Mädchen«, sagte der Zugführer. »Jetzt lass die Mama schon fahren.«
Ich ließ los, doch ich konnte nicht verhindern, dass ich laut zu schluchzen anfing, als Lena in den Zug stieg, dass mein Herz zu zerspringen schien, als der Zug anfuhr und Lena hilflos aus dem Fenster sah, ein weißer Fleck, der sich entfernte.
Rings um uns waren einige Leute stehen geblieben, die jetzt den Blick senkten und weitergingen, ohne etwas zu sagen. Nur ein sehr alter Mann stieß fest seinen Gehstock auf den Boden, als er an uns vorbeikam, und sagte zwischen den Zähnen: »Verdammte Sauerei!«
Ich weiß nicht, wen der alte Mann in den Zug über die Grenze gesetzt hatte. Aber plötzlich hatte ich das Gefühl, in einem Meer von Tränen zu versinken.
In den nächsten Tagen und Wochen konnte ich kaum verstehen, was mit mir geschah. Trauer, Zorn, Sehnsucht – all diese widerstreitenden Gefühle wechselten sich ständig in mir ab, bis sie zu einer inneren Unruhe geworden waren, die ich fast nicht mehr aushielt. Ich konnte nicht sagen, wen von beiden ich mehr vermisste: Mami oder Lena. Die Erinnerung an Lenas Lachen, ihre warme Stimme, ihre liebevolle Umarmung löste größere Sehnsucht in mir aus, vielleicht weil es so lange her war, dass ich mit meiner Mutter ähnlich glücklich gewesen war. Andererseits waren es Mamis Fotos, die ich wie unter Zwang immer wieder ansah. Die beiden verschwammen für mich allmählich zu einer einzigen Person. Manchmal fragte ich mich, ob ich im Begriff war, verrückt zu werden.
Am schlimmsten waren die Nachmittage, wenn ich nicht mehr wie gewohnt ins Krankenhaus fuhr. »Warum schaust du eigentlich dauernd auf die Uhr?«, fragte mich Meggi einmal irritiert. Sie war zu dem Zeitpunkt schon meine Freundin, aber ihr zu erklären, dass der Busfahrplan von Poppenbüttel zur Uniklinik immer noch wie ein Fernschreiber in meinem Kopf ratterte – das wagte ich nun doch nicht.
Ich erzählte ihr auch nichts von meinen abendlichen Spaziergängen, von der Siedlung, in der ich »Lenas Haus« gefunden hatte. So nannte ich es: Lenas Haus. Eigentlich war nichts Besonderes daran, es war irgendein altes Haus. Aber an jenem ersten Abend, als ich über die Straße darauf zuging, ganz versunken in die üblichen traurigen Gedanken vor dem Zubettgehen, hatte hinter einem der Fenster ein Licht gebrannt. Ich hatte ohne zu überlegen die Augen zu
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