Lilly unter den Linden
auf Anhieb einleuchtende Bedingung bedeutete, dass er zwar als Taxifahrer fungieren, sich aber nicht an den Vorbereitungen zu meiner Flucht beteiligen würde. Und Marc würde zwar den alten Käfer seiner Schwester zur Verfügung stellen, aber dass Pascal sich damit in der Nähe des Internats sehen ließ, war ausgeschlossen. Das Problem, wie ich mein Gepäck an der Pförtnerin vorbei in den Kofferraum des Käfers bekam, musste ich also selber lösen.
Wahrscheinlich hoffte Pascal, dass er mir damit eine so harte Nuss zu knacken gegeben hatte, dass ich mein Vorhaben aufgeben würde. Denn als Meggi ihn am Freitagabend – dem Vorabend des 24. Dezembers – von einer Telefonzelle aus anrief, um ihm mitzuteilen, dass der Käfer startklar war, soll er erst einmal eine ganze Weile geschwiegen haben.
Es war nämlich die über jeden Verdacht erhabene Meggi, die am Donnerstag und Freitag meine Sachen in die Freiheit transportiert hatte. Nach dem Telefonat mit Pascal hatte ich mir keinen anderen Rat gewusst, als geradewegs zu meiner Freundin zu laufen. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen!«, beschwor ich sie.
Meggi saß zwischen den vielen Kuschelkissen auf ihrem Bett und versank in tiefes Schweigen. »Ist doch ganz einfach«, sagte sie schließlich. »Du brauchst doch nur deinen Schulrucksack, läufst ein paarmal hin und her …«
»Hast du eine Ahnung, wie sie hinter mir her sind, seit ich nachts spazieren gegangen bin?«, erwiderte ich verzagt. »Ich brauche nur nach rechts und links zu sehen, und schon fragt einer: ›Lilly, wo willst du hin?‹«
»Dann mache ich es eben. Pascal soll das Auto zum Supermarkt fahren und einen Koffer in den Kofferraum legen, und ich laufe ganz gemütlich hin und her und packe«, meinte meine Freundin, und für jemanden, der noch vor kurzem mit allen Mitteln versucht hatte, mich von meinem Vorhaben abzubringen, funkelten ihre Augen ausgesprochen unternehmungslustig.
»Meggi, du bist genial«, sagte ich, um ihr eine Freude zu machen. Denn um ehrlich zu sein, hatte ich genau denselben Plan bereits selbst ausgeheckt. Ich hatte Meggi aber nicht direkt fragen wollen, denn schließlich soll man niemanden zu kriminellen Handlungen verführen, und wenn doch, dann sollte man es wenigstens so aussehen lassen, als habe der so Verführte die Entscheidung aus freien Stücken getroffen.
Zwei Tage lang bewegte Meggi sich nirgendwohin ohne ihren Schulrucksack. Niemand schien sich zu wundern. Pascal hatte uns wie geplant den Schlüssel des Käfers überlassen und diesen zwei Straßen weiter auf einem Supermarktparkplatz abgestellt. »Ich habe nichts damit zu tun«, redete er sich ein. Den Schlüssel hatte er von unten an einen Papierkorb in der Nähe des Wagens geklebt – ein wenig übertrieben, wie wir fanden. Als ich wissen wollte, ob er auch seine Fingerabdrücke abgewischt hatte, wurde er böse.
Meggi stopfte im Schutz des Kofferraumdeckels Pascals Tramperrucksack ordentlich voll. Was sie nicht unterbringen konnte, brachte sie ziemlich wahllos wieder mit, sodass ich später in Jena sehr seltsame Kombinationen zu Tage förderte, die meine Angehörigen in verblüfftes Schweigen fallen ließen. Die Teenie-Mode im Westen hatten sie sich anders vorgestellt.
Aber das Wichtigste war, dass wir es geschafft hatten. Der Käfer war bereit, es gab keine Möglichkeit mehr für Ausflüchte. Pascal musste zu seinem Wort stehen, auch wenn er eine schlaflose Nacht verbracht und, wie er mir später erzählte, seine persönlichen Unterlagen so geordnet hatte, dass seine Hinterbliebenen damit zurechtkommen würden, sollte ihm und mir auf der Fahrt irgendetwas Düsteres zustoßen. Aber dazu später …
Jetzt stand erst einmal Meggi vor mir und trat vor Verlegenheit von einem Fuß auf den anderen, um den Abschied herunterzuspielen. Uns beiden war klar, dass es kein gewöhnlicher Abschied war. »Wenn ich dich Ostern besuche, bringe ich deinen Hamster mit«, versprach Meggi.
Was wir beide dachten, sprachen wir nicht aus: Wahrscheinlich sehen wir uns nie wieder …
»Mach’s gut«, sagte ich leise.
»Du auch.«
Wir gaben uns die Hand. Pascal wartete schon – im Trubel des letzten Einkaufstages vor Weihnachten achtete niemand auf uns, da konnte er es wagen, sich mit mir auf dem Supermarktparkplatz sehen zu lassen. Und erst als ich im Auto saß und es schon anfuhr, hatte ich endlich den Mut, das Fenster herunterzukurbeln, zu winken und zu rufen: »Du wirst mir furchtbar fehlen!«
Meggi winkte, ihre
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