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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Lippen bewegten sich. Vielleicht sagte sie: »Du mir auch! Viel Glück!«
    Ich wendete mich rasch ab und begann mich umständlich mit meinem Sitzgurt zu beschäftigen. Pascal warf einen kurzen Seitenblick auf mich. »Tja, Lilly«, sagte er rau. »Wer aufbricht, lässt immer auch etwas zurück.«
    Meine Mutter hatte das Papier angestarrt. Sie hatte den Bleistift in der Hand gehalten und mehrmals zum Schreiben angesetzt: »Liebe Lena …«, aber ihr Vorhaben mit sinkendem Mut wieder abgebrochen. Sie hatte daran gedacht, ihre Schwester um Verzeihung zu bitten für den Schreck und den Schmerz, den sie ihr an diesem Abend zufügen würde, wenn Lena nach Hause kam und ihre Botschaft fand. Sie wollte ihr danken für die letzten beiden Jahre, für die Selbstverständlichkeit, mit der sie und Rolf Rita nach ihrer Heirat weiterhin in den Haushalt integriert hatten. Nie hatten die beiden Rita spüren lassen, dass sie vielleicht lieber allein gewesen wären, nie hatten sie sie in Verlegenheit gebracht durch den Austausch intimer Zärtlichkeiten oder indiskreter Andeutungen in ihrer Gegenwart. Nun, da Rita selbst zum ersten Mal verliebt war, konnte sie erst richtig ermessen, wie schwer ihnen das mitunter gefallen sein musste.
    Sie hätte Lena auch gern erzählt, dass sie, nachdem ihre und Jochens Entscheidung getroffen war, nächtelang wach gelegen und geweint hatte, weil diese Entscheidung sie und Lena für immer voneinander trennen würde. Sie wusste, man würde ihr nicht gestatten, zu Besuch in die DDR zurückzukehren. Wer flüchtete, brach alle Brücken hinter sich ab, der sah sein Zuhause, seine Familie, seine Freunde mit großer Wahrscheinlichkeit nicht wieder. Vielleicht würde man die strengen Reisebestimmungen irgendwann lockern, ganz sicher würde man Lena eine Reise in den Westen erlauben, wenn sie im Rentenalter war. Aber Lena und sie selbst im Rentenalter, das überstieg Ritas Vorstellungsvermögen.
    Wie hätte ein Blatt Papier, wie hätte der ganze Schreibblock ausreichen können für all das, was sie Lena in diesem letzten Moment gern gesagt hätte?
    Vielleicht hatte Jochen Recht gehabt: »Du schreibst gar nichts, das wäre ja noch schöner! Was, wenn es gefunden wird, bevor wir drüben sind?«
    Aber meine Mutter brachte es nicht fertig, ohne ein Wort zu verschwinden und Lena völlig im Unklaren zu lassen. Sie setzte den Stift an und schrieb: »Ich bin in Hamburg. Danke für alles. In Liebe, deine Rita.«
    Dann wusch sie sich ein letztes Mal die Hände in dem kleinen Waschbecken, hörte ein letztes Mal die knarrenden Holzdielen im Flur, nahm ein letztes Mal den Mantel von der Garderobe.
    Ganz tief sog sie den vertrauten Duft der Wohnung in sich ein, dann drehte sie ein letztes Mal den Schlüssel im Schloss um und bückte sich, um ihn in den kleinen Spalt unter der obersten Treppenstufe zu schieben. Er fiel ihr zweimal wieder heraus, weil ihre Hand so zitterte.
    Wer aufbricht, lässt immer auch etwas zurück.
    »Sie wollen keinen Kontakt. Sie wollen nur die Devisen, die D-Mark, aber ansonsten tun sie alles, um Begegnungen zwischen den Menschen zu unterbinden. Angefangen bei diesen verdammten Schikanen an der Grenze, damit Leute aus dem Westen gar nicht erst auf den Gedanken kommen, in die DDR fahren zu wollen.« Ich erinnerte mich an den Zorn in Mamis Stimme, als sie uns das erzählt hatte.
    Je näher Pascal und ich dem Grenzübergang kamen, desto stiller wurden wir.
    Schon von weitem ließ sich erkennen, dass wir es mit keiner gewöhnlichen Landesgrenze zu tun hatten. Ein schier endloser Maschen- und Stacheldrahtzaun erstreckte sich beiderseits der Autobahn, bis er hinter Hügeln und Bäumen am Horizont verschwand. Er zerriss in zwei Teile, was einmal zusammengehört hatte, sich nun jedoch bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstand: Deutschland Ost und Deutschland West, Kriegsschauplatz Nummer eins, sollte es jemals zu einem bewaffneten Schlagabtausch zwischen der NATO und den Staaten des Warschauer Pakts kommen. Ich hatte Studenten gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland demonstrieren sehen und es nicht verstanden. Jetzt ahnte ich, worum es ging.
    Ein schmaler Feldweg für die Kontrollfahrzeuge führte entlang des Zauns durch die winterliche Einöde, ein viereckiger Wachturm war so platziert, dass man das Gelände ringsum gut überblicken konnte.
    Ich bildete mir ein, es im Turmfenster aufblitzen zu sehen, als sich Licht im Fernglas des Beobachters brach. Keine Bewegung hier draußen

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