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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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konnte den Posten entgehen, dennoch gelang immer wieder Einzelnen der Durchbruch – laufend, kriechend, schwimmend bei Nacht und Nebel, versteckt an den aberwitzigsten Stellen in einem Fluchtauto, durch unterirdische Tunnel oder in einem selbst gebauten Fluggerät. Selbstschussanlagen und Bodenminen entlang der Grenze waren vor einigen Jahren abgebaut worden, aber der Schießbefehl auf Flüchtlinge galt nach wie vor. Es schien mir unvorstellbar, dass jemand den Mut aufbrachte, sich in diesem Wäldchen zu verstecken, die Bewegungen der Kontrollfahrzeuge zu studieren, unter den Augen der Grenzposten auf den einen, einzigen, unbeobachteten Moment zu warten, um dann alles zu riskieren, loszurennen, ein Loch in den Zaun zu schneiden, eine Leiter anzulehnen, zu klettern, zu springen …
    Mein Herz klopft bis zum Hals. Ich wende den Blick ab. Pascal reiht sich in die Autoschlange ein, die sich vor dem Schild »Transit« gebildet hat. Zwei Grenzbeamte winken uns heran, ohne die finsteren Mienen zu verziehen, und heißen uns mit den Worten: »Ausweise, Fahrzeugpapiere, Kofferraum und Motorhaube öffnen!« unwillkommen auf dem ersten Stück DDR-Hoheitsgebiet, das wir auf dem Weg nach Westberlin durchqueren müssen. Vorsichtshalber hat Pascal im Westen noch einmal voll getankt, damit er auf der DDR-Autobahn ja keine Sekunde anhalten muss.
    Die Grenzer lassen sich Zeit. Während einer mit unseren Pässen verschwindet, fordert der andere Pascal auf, auch noch den Rücksitz nach vorne zu klappen. Pascal zerrt und schiebt, knallt gleich mehrmals mit dem Kopf gegen die Decke, stirbt tausend Tode, weil er das Auto nicht kennt und die Sitzbänke sich nicht klappen lassen (»Ogottogott, geht das überhaupt beim VW?«). Die Grenzer lassen ihn rackern, ohne zu helfen, immer dieser starre, fast beleidigte Blick, und als er endlich schweißüberströmt aufgibt, inspizieren sie den Käfer so gründlich, dass ihnen das Wesentliche entgeht: das republikflüchtige Kind, das sich ganz klein macht … Ungläubig und staunend sehe ich zu, wie sie einen Spiegel an einem langen Stab unter unser Auto schieben. Noch lange, nachdem wir die Grenze hinter uns gelassen haben, ist es im Käfer ganz still.
    Und dann kommen wir nach nur wenigen Stunden Fahrt nach Westberlin und das Entsetzen über die Grenzanlagen ist vergessen. Ich hänge seitlich aus dem Fenster, Regen trommelt in mein Gesicht und ich schreie Leuchtreklamen, Weihnachtsschmuck und Kinofoyers mein ganzes Glück entgegen: »Berliner Regen! Endlich!« Ich meine meinen Vater zu sehen, wie er 1973 mit seiner Ente dieselbe Straße entlang fährt. Dieselben Häuser, derselbe Asphalt, dieselben Ampeln. Vielleicht gab es den kleinen Kiosk schon, bestimmt die U-Bahn-Station, den dicken Baum …
    »Jetzt mach endlich das Fenster zu und guck mit in die Karte!«, schimpfte Pascal. »Seit mehr als einer Stunde kurve ich hier herum …!«
    Er warf mir in den Schoß, was von einem nagelneuen Falk-Plan übrig geblieben war. Ich sah gleich, dass die »patentierte Falttechnik« nicht mehr zu retten war. Kurz entschlossen lehnte ich mich wieder aus dem Fenster und rief zu dem Taxi hinüber, das gerade neben uns im Stau zu stehen kam: »Entschuldigung! Wie kommen wir am besten in den Osten?«
    Der Taxifahrer schnippte eine Kippe auf die Straße. »Möglichst wenig reden und das Geld abgezählt bereithalten«, empfahl er und kurbelte sein Fenster wieder hoch. Ich plumpste verdutzt in den Sitz zurück, als der Käfer wieder losruckelte.
    Noch verblüffter war ich, als Pascal an der nächsten Ampel mit starrem Blick geradeaus fuhr.
    »Nach rechts, fahr nach rechts, da steht es doch!«, rief ich aufgeregt und ruderte mit den Armen wild im Regen, bis ein Kleinlaster Einverständnis blinkte. »Der lässt dich, der lässt dich!«
    Pascal kniff die Lippen zusammen. Seine Fingerknöchel wurden weiß, so fest stemmte er sich gegen das Lenkrad. Der Kleinlasterfahrer tippte sich an die Stirn, als er an uns vorbeizog, und seine Hinterreifen entluden einen Schwall Pfützenwasser über meinen Kopf.
    Ich warf den Stadtplan nach hinten, verschränkte die Arme und rutschte tiefer in den Sitz. Zornig und hilflos merkte ich, wie mir wieder mal die Tränen kamen. »Feigling!« Mehr als eine halbe Stunde fuhren wir wortlos kreuz und quer durch die Stadt, meine Haare waren längst getrocknet, bis sich Pascal endlich entschließen konnte, das Ding durchzuziehen und in die richtige Richtung abzubiegen.
    Am Übergang nach

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