Lilly unter den Linden
Ostberlin wurden wir zum Glück zwischen anderen Autos eingekeilt, sodass er nicht ohne weiteres hätte wieder ausscheren können. Trotzdem machte ich mich vorsichtshalber ganz schwer auf meinem Sitz und beklagte mich auch nicht, als Pascal anfing zu rauchen, was er meines Wissens schon vor Jahren aufgegeben hatte. Inbrünstig hoffte ich, dass die Grenzbeamten sich beeilten und wir schnell vorankamen, bevor mein Begleiter es sich doch noch anders überlegte. Aber leider gaben sie das komplette Kontrollprogramm, obwohl Heiligabend war und im Kontrollhäuschen immerhin ein dünnes Weihnachtsbäumchen stand. Wir warteten endlos in der Autoschlange, und zwischen Pascal und mir klumpte sich das Schweigen wie ein zäher alter Kaugummi.
Derart unter Hochspannung, nahm ich die anderen Grenzgänger erst wahr, als nur noch wenige Autos vor uns in der Reihe standen. Ungewöhnlich viele ältere Leute waren darunter, die teils zu Fuß die Grenze passierten und auf der anderen Seite bereits erwartet wurden. Von meiner Mutter wusste ich, dass man im Rentenalter aus der DDR in den Westen übersiedeln durfte und dass viele Rentner dies auch taten, selbst wenn sie ihre Kinder und Enkelkinder zurücklassen mussten. Von Westdeutschland aus konnten sie von nun an die Daheimgebliebenen mit den Segnungen der Marktwirtschaft erfreuen. Wobei diese dann überrascht feststellten, dass manches, was im Westen preiswert verkauft wurde, in der DDR hergestellt worden war – nur eben nicht für die dortige Bevölkerung, sondern für den Export gegen harte D-Mark!
Eine kleine grauhaarige Frau schleppte so viele Tüten, dass sie kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Sie wurde von ihrer Familie mit großem Hallo empfangen und im Triumphzug von dannen geführt, aber mich machte das traurig. Ich stellte mir vor, wie sie die meiste Zeit allein auf der anderen Seite zubringen musste. Ja, je länger ich den weihnachtlichen Grenzgängern zusah, desto deprimierter wurde ich. Auch aus diesem Grund war ich froh, als wir endlich an die Reihe kamen, selbst wenn wir nur wieder angeschnarrt wurden: »Motorhaube, Heckklappe, Ausweise, Fahrzeugpapiere …«
Nun gab es kein Zurück mehr! Während Auto und Pässe kontrolliert wurden und Pascal für jeden von uns fünfundzwanzig D-Mark in DDR-Mark zwangsumtauschen musste, versuchte ich aufgeregt, einen ersten Blick auf den Osten der Stadt zu erhaschen. Ich sah graubraune Altbauten und diese lustigen kleinen Trabis, die durch den Regen fuhren. Ich war mir nicht ganz sicher, ob das schon der Osten war. Trotzdem schlug mein Herz bis zum Hals: Ich war tatsächlich hier, ich hatte es geschafft, nur wenige Schritte trennten mich von meinem neuem Leben! Unterhalb meiner Rippen steigerte sich ein feierliches Kribbeln bis zur Unerträglichkeit. Es fehlte nicht viel und ich wäre vor Aufregung auf und nieder gehopst.
Nur der Blick auf Pascals grämliche Miene hielt mich davon ab. Der Arme war schließlich noch weit von seinem Ziel entfernt; nicht nur hatte er mich unbeschadet in den Zug nach Jena zu setzen, sondern musste anschließend auch noch den ganzen Weg wieder zurück nach Hamburg fahren …
Mit einem Mal ergriff mich tiefe Wehmut. Mitgefühl und schlechtes Gewissen wegen Pascal, immer noch Traurigkeit wegen des Abschieds von Meggi … ich kam mir vor wie ein Schuft. Wie oft hatte ich mit Pascal gestritten, ihm böse Worte an den Kopf geworfen, ihm Unrecht getan und ihm das Leben schwer gemacht. Nun brachte er mich zwar nicht ganz freiwillig, aber immerhin doch unter Einsatz seines Lebens hinter »die dichteste Grenze in ganz Europa«, wie Frau Gubler es genannt hatte. Wie sollte ich das je wieder gutmachen? Ich drückte mich fest an ihn, um ihn mit grenzenloser Liebe und Dankbarkeit zu überströmen.
»Autsch, Lilly, jetzt drängel doch nicht!«, beschwerte er sich und gab mir einen kleinen Knuff in die Seite.
Ich knuffte beleidigt zurück. Nicht einmal in dieser ganz besonderen Situation wollte es zwischen uns klappen. Es war wohl tatsächlich das Beste für uns beide, dass wir uns endlich trennten.
Kaum waren wir über die Grenze, stritten wir schon wieder, diesmal um das Foto: meine Eltern »Unter den Linden«. Eine Treppe, eine Säule, seitlich dicke Mauern mit Schnörkeln und Verzierungen – all das konnte doch nicht vom Erdboden verschluckt worden sein! Wieder und wieder fuhren wir »Unter den Linden« auf und ab, schon dreimal war ich ausgestiegen und hoffnungsvoll auf ein Bauwerk
Weitere Kostenlose Bücher