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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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hin, wenn sie daran vorbeikamen. Dabei sahen diese Leute aus wie wir, sprachen unsere Sprache und gingen ihren Besorgungen nach, wie Menschen dies auch in unserem Teil der Welt am 24.-Dezember taten. Wir mussten noch viel mehr gemeinsam haben, und plötzlich war ich neugierig darauf, es herauszufinden. Es fehlte nicht viel und ich hätte einigen von ihnen durchs Fenster »Guten Tag!« zugerufen.
    Wir fuhren weiter nach Osten, Richtung Hauptbahnhof. Abseits der »Linden« lagen große Gebäude wie im Schatten. Vor dem Bahnhof fanden wir auf Anhieb einen Parkplatz, und das am Heiligabend! Wir stellten uns schweigend am Fahrkartenschalter an, und als wir an die Reihe kamen, kaufte Pascal für mich eine Fahrkarte nach Jena Paradiesbahnhof – einfach so! Mein Herz klopfte, aber alles ging gut, niemand schöpfte Verdacht, dass sich hier gerade eine Republikflucht abspielte.
    Trotzdem mussten wir vorsichtig sein. Wir bekamen eine kleine Hand voll Münzen zurück, die Pascal mir mit der Fahrkarte in die Manteltasche steckte. Verstohlen fühlte ich nach dem Geld, ließ meine Finger hindurchgleiten … es klimperte nicht! Ich nahm eine Münze heraus und sah sie an, aber Pascal gab mir einen kleinen Schubs. »Die sind aus Aluminium!«, flüsterte er. »Guck sie dir später an. Bloß nicht auffallen!«
    Einige Münzen wurden wir gleich wieder los: für zwei Bockwürstchen mit Senf in der Mitropa-Gaststätte. Unsere letzte gemeinsame Mahlzeit! Pascal sah mich die ganze Zeit traurig an, und auch mir zwängte sich die Bockwurst nur mit Mühe durch den Hals. Auf den Stufen vor dem Dom, meiner privaten Gedenkstätte, hatten wir noch schweigend gesessen, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Jetzt traute ich mich und fragte leise: »Denkst du auch so oft an sie?«
    »Sehr oft«, gab Pascal zu.
    »Und woran denkst du dann?«
    »Ich versuche mich an das zu erinnern, was nicht auf Fotos ist«, antwortete Pascal. »Ich habe Angst, dass ich das vergesse.«
    Ich schob meinen Teller beiseite.
    »Hör mal zu, Lilly«, sagte Pascal eindringlich. »Wenn sie hier nicht nett zu dir sind, hole ich dich wieder ab. Du brauchst nur anzurufen. Versprichst du das?«
    Ich nickte stumm.
    »Rita würde mir nie verzeihen, wenn ich dich einfach so ablade«, sorgte er sich. »Hoffentlich hast du nicht das Gefühl … aber weißt du, ich bin einfach zu selten zu Hause. Es hätte gar nicht funktionieren können.«
    »Ist schon gut, das weiß ich doch«, murmelte ich und fügte so fröhlich wie möglich hinzu: »Bei Lena ist es sicher ganz toll. Lustig und gemütlich und immer was los … und ich kriege sogar Geschwister!«
    Pascal aß gedankenverloren die Reste meines Bockwürstchens. Ich hatte das komische Gefühl, dass er mir etwas sagen wollte und sich dann doch dagegen entschied. Stattdessen grinste er unvermittelt und meinte: »Bei uns war ja auch nicht alles schlecht, oder? Wir hatten auch schöne Zeiten zusammen. Unser erster Winterurlaub, wo ihr mir den Schneepflug beigebracht habt …«
    »Als wir alle drei Mumps hatten …«
    »Als beim Vorlesen dein Etagenbett unter uns zusammengekracht ist …«
    »Als du mich nach Berlin gefahren hast …«
    Wir machten eine Gepäckprobe: Ich konnte den schweren Rucksack gerade so tragen. »Überhaupt kein Problem«, behauptete ich und dachte: Hoffentlich wohnt Lena nicht so weit vom Bahnhof entfernt. Pascal tat, als wolle er mir den Schuh binden, und versteckte dabei ein kleines Bündel DM-Scheine seitlich in meinen Socken. »Wenn sie dich erwischen, verlangst du, dass sie dich dem Bundesgrenzschutz übergeben«, schärfte er mir ein. »Und rede im Zug so wenig wie möglich. Sie brauchen nicht zu hören, dass du aus Hamburg kommst!«
    »Lena wird Augen machen«, machte ich mir Mut.
    »Das glaube ich auch«, brummte Pascal.
    Wir standen vor dem Zug, überall schlossen schon die Wagentüren. »Besuchst du mich mal?«, bettelte ich mit einer Stimme, die viel höher klang als meine.
    »Lass mich erst mal heil hier rauskommen«, meinte Pascal. »Dann können wir darüber reden!«
    Er hob meinen Rucksack in den Zug. »Mach’s gut, Lilly«, sagte er rau und umarmte mich, aber nur ganz kurz, denn eigentlich wollten wir es beide schnell hinter uns bringen.
    »Ich werde dir das nie, nie vergessen«, versprach ich am Fenster.
    Pascal sagte nichts, aber als der Zug anfuhr, ging er noch ein ganzes Stück mit, bis wir zu schnell wurden und ich ihn an dem fremden Bahnhof immer kleiner werden sah. Dass mir

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